Alles bequem online shoppen

Ein Kommentar zum Nachdenken

„Jeff Bezos – Der Herr der Dinge“, „Wie der Onlinehandel unser Einkaufen revolutioniert“, „Der Gigant Amazon“ – kaum eine Zeitung oder ein Wochenmagazin, das sich in der Adventszeit nicht dem Riesenthema Onlineshopping und Amazon widmet. Auch die ARD sendete kürzlich eine Dokumentation über den Amazon-Versand – der wie viele andere Auswirkungen des Internet – sehr zweischneidig ist und trotzdem ungebremst wächst. Gleich zu Anfang der Reportage kam eine junge Familie zu Wort, die große Freunde am Online-Einkauf hatte. Der ca. 15-jährige Sohn meinte über die Vorteile: „Es ist so bequem, man braucht zum Einkaufen nicht mehr rauszugehen…“

Gerade darin liegt eine unglaubliche Trostlosigkeit und eine Tragweite, die unser Zusammenleben und die ganze seelische Gesundheit unserer Gesellschaft noch auf eine Zerreißprobe stellen wird. Selbstverständlich hat die Internet-Shoppingwelt ein unschlagbares Ass, das so leicht kein Einzelhandel ausstechen kann: die Riesenauswahl. Auch als die Innenstädte und der stationäre Handel noch keine Online-Konkurrenz hatten, hätte keine Fußgängerzone hierzulande binnen zwanzig Sekunden siebzig verschiedene Schlauchboote, hundert verschiedene Kronleuchter oder Babyanoraks in zwanzig Größen von dreißig Herstellern zu bieten gehabt. Das Argument Auswahlvielfalt ist nicht wegzudiskutieren.

Was bedeutet es aber, wenn wir zum Einkaufen „nicht mehr rausgehen“ und uns angewöhnen, alle Geschäfte „per Mausklick“ und „bequem von zuhause aus“ zu erledigen? Die „Bequemlichkeit“ zuhause ist bei genauer Betrachtung nur eine Seite einer Medaille. Wir gehen weniger Shoppen und Bummeln, dadurch veröden die Einkaufsviertel, aber das nehmen viele mit Schulterzucken einfach hin. Wie der Einzelhandel mit der fantastischen Internetwelt konkurrieren will, ist ja sein Problem.

Zu überlegen wäre, ob es für gesunde Menschen überhaupt vorteilhaft ist, immer weniger ihr Zuhause zu verlassen. Jede Minute, die wir im Internet verbringen, ist eine Minute weniger, in der wir anderen Menschen live begegnen. Der Mensch ist aber in der Regel kein Einzelgänger, er ist unabänderlich ein Gesellschaftswesen, das eine gesunde Balance aus Privatheit und Öffentlichkeit benötigt. Die Anpreisung der Internetverfügbarkeit, „alles von zuhause aus“ zu regeln, unterstellt, dass es gar nicht lohnt, sich in der Freizeit mit der Welt vor der Türe zu beschäftigen. Man empfindet es zuletzt vielleicht gar als Zumutung, sich anderen Menschen auszusetzen. Diese Haltung ist leider typisch für die Ursprungsheimat des Internet, den USA. Dort ist die spontane Begegnung fremder Menschen teils äußerst reserviert, wo man am „Drive-Thru“ im Auto seine verpackte Tablettmahlzeit einnimmt, wo viele Vorstadtbewohner nicht den eigenen Haustüreingang benutzen, sondern beim Nachhausekommen mit dem Auto grußlos in der Garage verschwinden, ohne Nachbarn zu sehen. Viele Restaurants haben nur die bekannten Sofanischen, in die man sich verzieht und vom Gästebetrieb weiter nichts sieht. Über Persönliches wird kaum mit jemandem gesprochen.

Die Amerikaner sind teils verklemmt geworden, die „Can I Help You?“-Freundlichkeit ist zwar nicht geheuchelt, aber vorrangig oberflächlich an Fremde gerichtet. Wer mit einem Amerikaner eine Herzensfreundschaft schließen will, hat schon eine Nuß zu knacken. Und was wir urbanes Leben nennen, ist dort eine Rarität, niemand trödelt, alle sind „busy“. Man kennt in den USA reichlich Großstädte, die gar keine Flaniermeile haben, sondern nur Einkaufszentren, um schnell und reibungslos die Versorgung zu erledigen. Dort soll man vor allem hübsch Geld ausgeben. Straßencafés und Bummelmeilen gehören in den meisten US-Städten zur Exotik. Es sind genug deutsche Touristen aus Los Angeles wiedergekommen, die meinten, diese ganze Stadt sei ein einziges Gewerbegebiet. Da ist es natürlich willkommen, wenn uns Amazon-Chef Jeff Bezos diese anonyme Welt ersparen will und uns alles in unser gemütliches Zuhause bringt. Als wäre unser Heim ein Zufluchtsort in einer feindlichen Außenwelt.

Dasselbe tägliche Einkaufsabwickeln per „Versorgungszentrum“ bringt man uns auch in der Eifel bei: Am Ortsrand werden ein Aldi, ein Drogeriemarkt, ein Bäcker und eine Tankstelle hingepflanzt und dann kaufen wir so ein, wie man es heute „den Kofferraum Vollmachen“ nennt. Hier sollen wir nur zügig parken und unseren Haushaltsbedarf in den Wagen schaufeln, aber nicht leben. Wir fragen uns, warum nicht mehr soviele Kinder auf der Straße spielen, warum die alten Leute nicht mehr im Park sitzen und Karten spielen, warum in der Innenstadt die 1-Euro Ramschläden blühen und die Cafés weniger werden und wir wundern uns dann schon, wenn der sterile Drogeriemarkt eine hölzerne Sitzbank an den Ausgang stellt, um vielleicht mal eine Minute zu verschnaufen und Mensch zu sein. Man muss nur mal in einen Gesellschaftsroman um das Jahr 1900 hineinschauen, um zu verstehen, wie elementar den Menschen das Urbanitätsgefühl, der Wunsch nach öffentllicher Begegnung war. Der Weltschriftsteller Stefan Zweig schreibt aus seinem Stadtleben in Paris anno 1910 „…nur eines war schwierig: zuhause zu bleiben oder nach Hause zu gehen….“

Unsere Stadtplaner kämen freilich nicht auf die Idee, zu der gesichtslosen Parkplatzlandschaft rund um Aldi und Co. mal ein Eiscafé oder eine Natursteinmauer mit Brunnen und zwei Bäume einzuplanen. Dass man mal für einen halben Tag eine Innenstadt genießen kann, ohne zu shoppen, mal einen Eisbecher zu genießen, zu sehen, wie hübsch es ist, zwei Blumenkübel an die Straße zu stellen oder mal auf eine Hausfassade zu schauen, die sich lohnt anzuschauen, das lernen wir dann im Italienurlaub. In der Kleinstadt Irrel in der Westeifel fragt die Einkaufskundschaft sich, warum es so schwer ist, dort mal ein hübsches Café einzurichten. Doch die Stadtplanung ist stramm durchökonomisiert, das heißt nicht menschgemäß, da ist jede Minute ungeplanter Aufenthalt verschwendet. Und so denkt auch der Junge aus der ARD-Amazon-Reportage. Er ist ein armer Kerl, denn für ihn ist es selbstverständlich geworden, sein Leben von zuhause und vom Smartphone aus zu regeln. Was er braucht, entgeht ihm, und er merkt es nicht mal. Vor allem die Jugend braucht öffentliche Räume, Urbanität und Begegnung, wo sie normales Erwachsenenleben beobachten und Freiheiten erlernen kann. Stattdessen schaffen sie ihre Kontakte im Internet. Noch vor zwanzig Jahren antworteten unsere Jugendlichen auf die Frage nach ihren Hobbies „Weggehen“, also „unter die Leute kommen“.

Die Psychologen (und zunehmend auch die Psychiater) haben schon längst erkannt, daß das Internet zwar „Kontakte“ und „Kommunikation“ schafft, aber keine Begegnung. Es schafft wenig Gemeinschaftsgefühl, aber viel Vereinzelung, es schafft Mitteilsamkeit, aber kein Sozialverhalten. Man bekommt „Post“, aber keine sprechende Stimme, man bekommt „Flirts“ aber keine Blicke oder Düfte, ein Wölkchen oder etwas Sonnenschein. Man bekommt Chatrooms, aber keine Räume. Kann man jemanden im Internet liebevoll mit selbstgemachten Kuchen bewirten? Und das Warenangebot im Netz? Das hat Vielfalt, aber keine Überraschungen. Dafür sorgt schon der Algorithmus, denn das „smarte“ Internet bewältigt lediglich Rechenaufgaben. Es macht aus unseren Vorlieben und unserem Stöbern eine bloße Zahlenkombination und verlängert sie. Wie stupide, wie vorhersehbar! Jede Partie „Vier gewinnt“ ist kreativer als das Internet.
Wie eine Gesellschaft gesundes Sozialverhalten, Zusammenhalt und Normalität verlernt, das sieht man derzeit in den USA. Anlässlich der unfassbaren Waffengewaltexzesse der letzten Zeit sagte US-Präsdent Trump kürzlich: „Die Amerikaner haben kein Problem mit Waffen, sondern ein Problem mit ihrer Psyche.“

Die US-Gesellschaft ist leider nicht arm an solchen Vereinzelten, Abgehängten, Splittergruppen und Waffennarrren, die zuwenig Mitmenschlichkeit erlebt haben. Die zigtausenden „Preppies“ in Amerika, die in Bunkern Lebensmittel und Waffen anhäufen, um auf einen Zivilisationskollaps vorbereitet zu sein, beweisen, dass sie im Ernstfall von der Gesellschaft draußen nicht Hilfe und Zusammenhalt erwarten, sondern Feindseligkeit.

Diese Sektierer sind u. a. ein Produkt einer Gesellschaft ohne Zusammenhalt, in der es sich nicht lohnt, vor die Türe zu gehen, einfach damit mal einer sie grüßt oder fragt „Wie geht‘s dir?“. Diese Welt hat wenig Mitmenschlichkeit. Man kann sich fragen, ob der große Gemeinschaftsverlust und der Siegeszug der digitalen Welt nur zufällig gleichzeitig aufkamen. Die Auffassung, dass unser Zuhause eine Fluchtburg in einer bösen Außenwelt ist, verdankt sich auch dem Stress, der Verdichtung von Kommunikation, von Autoverkehr und unserer immer enger getakteten Zeit. Wir ziehen uns zurück von den Menschen, dabei haben wir es mehr als jemals nötig, Menschen zu treffen, die sich direkt mit uns beschäftigen und nicht mit ihrem Smartphone.

Freilich, der junge Schüler, der so gern online shoppt, wird hoffentlich kein spinnerter Waffensammler, und Amazon und der größenwahnsinnige Jeff Bezos tun nichts als Geld verdienen, das wollen andere auch. Man darf sich aber vom Gedanken verabschieden, dass die Internetgiganten unser Leben bereichern. Jeff Bezos, der alle Kaufartikel der Welt anbieten will, ist kein Weltbeglücker, sondern ein typisch amerikanischer Tycoon á la Dagobert Duck, dasselbe gilt für Mark Zuckerberg (Facebook) oder Elon Musk (Tesla).
Wenn sie mit ihren Firmenmethoden unsere Fußgängerzonen veröden lassen, unser Privatleben abspeichern oder uns mit künstlicher Intelligenz (d.h. noch raffinierteren Rechenmaschinen, die nie eine Kreativität oder Phantasie hervorbringen) lenken wollen, dann ist das ein Kollateralschaden ihres Gewinnstrebens oder von etwas Größenwahn, aber vermutlich handeln sie nicht absichtlich böse.

Wir werden aber durch den digitalen Onlinehandel nicht reicher, sondern wir verarmen seelisch. Der heutige „american way of life“ ist kein Fortschritt. Es ist besteht gewiss keine Notwendigkeit, sich beim Kleidungskauf mit einer/m lebenden Verkäufer/in zu unterhalten, aber es ist eine Notwendigkeit, sich menschliche Nähe und eine menschgemäße Umgebung auch vor der Haustüre zu bewahren. Noch haben wir Reste davon.

Wofür bestellen wir uns bei Amazon einen neuen schicken Wintermantel, wenn in der Stadt eh keiner mehr ist, für den wir ihn anziehen würden? Einige USA-Besucher kritisieren, wie nachlässig und unmodisch viele Amerikaner gekleidet sind. Vielleicht auch deshalb, weil sie so wenige Flaniermeilen kennen, wo man mal schicke Schuhe oder einen Mantel ausführen würde? Der amerikanische Architekt Robert Venturi bemerkte einmal: „Wofür brauchen die Amerikaner eine Piazza? Die haben doch ihren Fernseher!“ Natürlich kann man nicht in jedem Eifelstädtchen eine italienische Flaniermeile aufziehen, aber es sind in der Entwicklung unserer Eifelstädte schon ausreichend Eigentore geschossen worden. (Wenn eine Fußgängerzone verarmt, muss man nicht auch noch die letzten Innenstadtbesucher mit Parkgebühren verscheuchen. Wenn man auch den Drogeriehandel, den letzten Einkaufsmagneten, aus der Innenstadt in die Tankstellen-Landschaft ausquartiert, kommt halt keiner mehr in die Stadt.)

Mit dem verführerischen Internetshopping fördern wir auch unsere Vereinsamung und Verelendung, und lebendige Anschauung davon gibt es reichlich anderswo. Im Kommerzleben ist ja jetzt immer viel von Erlebnissen die Rede. Ein Stadterlebnis verdient manchmal wirklich dieses Prädikat. Mausklicks im Netz und Paketlieferungen im Treppenhaus sind kein Erlebnis. Jeder schöne Weihnachtsmarkt mit überraschenden Kleinigkeiten ist ein Erlebnis, das das Internet nicht bietet, und der Weihnachtsmarkt sollte nicht das letzte sein, was uns an Stadtleben noch übrig bleibt. Die Initiativen „Heimat shoppen“ u.a. schützen nicht nur unsere Arbeitsplätze, sie sind Offensiven für unsere Lebensqualität.

Unabhängig davon ist das System Amazon ein abstoßender Arbeitsmarkt. Die Angestellten bei Amazon, die in den Versandlagerhallen mit digitalen Fesseln überwacht und ausbebeutet werden, die gehetzten Paketlieferanten, die profitieren nicht von unseren Einkäufen. Amazon ist demgemäß genauso unmoralisch wie Fleisch aus Agrarfabriken, Konsumgüter aus Naturraubbau etc. In der Weihnachtszeit wird immer viel von Nähe, Kuscheligkeit, Humanität und Herzenswärme gesprochen. Unsere Städte und Straßen, unsere Plätze, die Orte der Begegnung, die Öffentlichkeit sind von diesen Kriterien nicht ausgenommen. Sie brauchen uns – und wir brauchen sie. Nicht als Selbstzweck, sondern um unsere innere Harmonie zu retten. Das Internet und der sogenannte „Komfort von zuhause aus“ schaffen kaum Harmonie. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ sagte ein großer Philosoph. Immer stärker scheint die Kosten-Nutzen-Bilanz unseres Lebens mit dem Internet in Richtung Minus zu kippen. Amazon und die tollen Online-Portale sollten nicht weiter wachsen. Wachsen sollte unsere Wachsamkeit, was wirklich unsere Bedürfnisse sind.

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