Anita Caspary

Es war ein klares Indiz für ihre historische Bedeutung:  Als die 95-jährige Dr. Anita Caspary am 5. Oktober 2011 – am gleichen Tag wie Apple-Gründer Steve Jobs – starb, widmeten ihr international renommierte US-Zeitungen ausführliche Nachrufe. Sowohl die „New York Times“ als auch die „Los Angeles Times“ würdigten das Leben der früheren Ordensschwester, die schon 1970 auf dem Cover des Nachrichtenmagazins „TIME“ zu sehen gewesen war. Damals hatte eine sehr ungewöhnliche Aktion dazu geführt, dass die langjährige Generaloberin des Ordens der „Sisters of the Immaculate Heart of Mary“ (Schwestern vom Unbefleckten Herzen Marias) unversehens ins Rampenlicht geriet.

Doch zunächst zur Vorgeschichte. Der erwähnte Marien-Orden ist eine 1848 vom spanischen Priester J. Masmitja gegründete kleine katholische Nonnengemeinschaft. 1871 kamen einige der Schwestern nach Los Angeles, wo der Orden im Lauf der folgenden Jahrzehnte zahlreiche Mädchenschulen errichtete und sich ausbreitete. Die 1915 geborene Anita Caspary legte 1936 die Ordensgelübde ab und schloss sich als „Sister Humiliata“ dem Orden an. Zuvor hatte sie am ordenseigenen Immaculate Heart College in Los Angeles einen Bachelor-Abschluss in Englisch erworben. Als Kleinkind war sie 1917 mit ihren Eltern Jacob Caspary und Marie (geb. Bruch) aus ihrem Geburtsort Herrick (South Dakota) in die kalifornische Metropole gekommen. Anitas Vater Jacob „Jake“ Caspary (1886-1969) war der erste in den USA geborene Spross dieser eifelstämmigen Familie; dessen gleichnamiger Großvater Jacob Caspary (1824-1904) war 1880 mit seiner Ehefrau Katharina (geb. Mönch) aus Altenahr in die Neue Welt aufgebrochen, wo bereits einige ihrer elf Kinder lebten. Nach ihrem Bachelor-Abschluss arbeitete Schwester Humiliata an der High School des Ordens als Lehrerin, wollte sich aber weiterqualifizieren. Sie machte an der University of Southern California ihren Master in Englischer Literatur und erwarb 1948 an der Eliteuniversität Stanford den Doktortitel (Ph.D.). Anschließend lehrte sie am Immaculate Heart College, von 1958 bis 1963 war sie Präsidentin dieser Hochschule.

In den kulturrevolutionären Sechzigern kam es auch im Leben dieser Ordensschwester und Wissenschaftlerin zu einem Umbruch. Zwei Einflüsse waren dabei treibende Kräfte: Die Aufbrauchstimmung und  Reformen des II. Vatikanischen Konzils und die gerade in Kalifornien üppig aufblühenden neuen Strömungen in Kultur und Gesellschaft. Mutig beteiligte sich die 1963 zur Generaloberin gewählte Schwester Anita mit vielen Mitschwestern – als „freiwillige Versuchskaninchen“, wie Kritiker bis heute vorwurfsvoll anmerken – an den psychotherapeutischen Encounter-Gruppen des Psychologen Carl Rogers und seines Schülers William Coulson, die genauso auf umfassende Befreiung von Zwängen angelegt waren wie der damalige Zeitgeist allgemein. Bei Schwester Humiliata gewann die Überzeugung Oberhand, dass die als repressiv empfundenen Ordenskonventionen im Widerspruch zur christlich fundierten Würde als freie Menschen stünden. Wie viele ihrer Mitschwestern wollte sie weder weiter im Nonnengewand auftreten noch sich vorschreiben lassen, wann sie zu Bett zu gehen hätte oder welche Musik ihr erlaubt war. Hier prallten Welten aufeinander, denn mit Kardinal James McIntyre, dem Erzbischof von Los Angeles, hatten sie einen erbitterten Gegner des II. Vatikanums als Vorgesetzten. Der erzkonservative Kardinal legte den aufmüpfigen Marienschwestern ein Unterrichtsverbot auf, worauf sich schließlich über 300 von ihnen unter Führung ihrer Generaloberin Caspary entschlossen, den Ordensstatus aufzugeben und stattdessen eine Laiengemeinschaft zu bilden. Einen derartigen  Massenexodus aus einem Orden hatte es bis dahin in den USA nicht gegeben – mit einem Schlag galt Anita Caspary als Symbol und Vorkämpferin für die Modernisierung der Kirche. Nachdem der Vatikan die Schwestern von ihrem Gelübde entbunden hatte, existierte die Gemeinschaft in Los Angeles als ökumenische Organisation weiter; neue Mitglieder blieben allerdings aus. Anita Caspary selbst arbeitete weiter als Dozentin. In der Öffentlichkeit wurde sie wegen ihrer Seminare über feministische Spiritualität und ihrer Biographie öfters als „feministische Nonne“ bezeichnet. 2003 veröffentlichte sie ihre Memoiren; das erfolgreiche Buch erhielt den „Best Book Award“ einer Historikervereinigung. Der Lebensweg dieser bis zuletzt tiefgläubigen Katholikin wird weiterhin so kontrovers diskutiert wie die Frage nach der Zukunft ihrer Kirche.
Verfasser: Gregor Brand

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