Bianca Theisen

Germanistin und Literaturtheoretikerin aus Bad Neuenahr-Ahrweiler

Bianca Theisen
Bianca Theisen

Wenige Jahre nach der Jahrtausendwende verstarb im Alter von nur 44 Jahren die an einer amerikanischen Eliteuniversität lehrende Germanistin und herausragende Kleist-Expertin Bianca Theisen, die trotz ihrer nur allzu kurzen Lebenszeit der Literaturwissenschaft bleibende Impulse gab.

Die 1960 in Bad Neuenahr-Ahrweiler geborene Geisteswissenschaftlerin besuchte das Gymnasium Calvarienberg der Ursulinen in Ahrweiler; auf dieser traditionsreichen Privatschule, die 1958 ein Gymnasium für Mädchen geworden war, machte sie ihr Abitur.  Anschließend studierte sie Anglistik und Germanistik, zunächst im nahen Bonn, dann auch an der US-Eliteuniversität in Stanford.  Dort veröffentlichte sie 1992 ihre Dissertation mit dem Titel „Gottes Griffel. Simulationen des Heiligen bei Heinrich von Kleist“.

Mit dieser Arbeit sowie weiteren Veröffentlichungen über den genialen Dramatiker und Sprachdenker Kleist (1777-1811) erwarb sich die Eiflerin schnell den Ruf einer herausragenden Kleist-Expertin. Vor allem ihr 1996 publiziertes Buch „Bogenschluss. Kleists Formalisierung des Lesens“ wurde zu einem einflussreichen und vielzitierten Beitrag der Kleistforschung und vertiefte die Erkenntnis, dass Kleist als Vordenker modernen Sprachverständnisses wahrgenommen werden muss. Die „scharfsinnige und überaus erhellende Arbeit“ Theisens (so der Literaturhistoriker Bernhard Greiner) stellte heraus, dass Paradoxie, Widerspruch und Ambivalenz bewusste und wesentliche Bestandteile des kleistschen Schreibens sind. Dies führt dazu, dass Kleist den Leser an die Grenzen des üblichen Interpretierens führt.

Gegensätze schließen sich bei ihm nicht aus, sondern können unauflöslich zusammenfallen, etwa wenn eine Musik „zugleich schreckliche und herrrliche Wunder“ vollbringt. Der Literaturwissenschaftler Dieter Heimböckel verwies unter Verweis auf Theisens Kleist-Studien darauf, dass Kleist die Sprache sehr bewusst als „Medium der Täuschung und Lüge, der Beeinflussung und Manipulation“ erkannt und „entsprechende Sprachverwendungsweisen eher als jeder andere“ durchschaut habe. Bei aller Intensität der Beschäftigung mit Kleist war Bianca Theisens Forschungs- und Erkenntnisinteresse allerdings keineswegs auf ihn beschränkt. Auch anderen Dichtern und Denkern der Zeit um 1800 – eine der eindrucksvollsten Epochen deutschen Geistes überhaupt – widmete sie tiefgründige Beiträge. In ihren letzten Lebensjahren kam als weiterer Schwerpunkt neben allgemein literaturtheoretischen Überlegungen die Auseinandersetzung mit der neueren österreichischen Literatur (z. B. T. Bernhard, G. Roth oder P. Handke) hinzu. International beachtetes Resultat dieser Lektüren war das 2003 veröffentlichte Buch „Silenced Facts. Media Montages in Contemporary Austrian Fiction“. Mit den Vorarbeiten dazu hatte sie 1996/97 während eines Forschungsaufenthaltes (Fellowship) am Stanford Humanities Center begonnen. Dieses Buch bezeugt, wie auch schon vorangegangene Schriften, ihre starke Beeinflussung durch die Systemtheorie Niklas Luhmanns, die sie für die Entwicklung eigener poetologischer Einsichten fruchtbar machte.   

In beruflicher Hinsicht war die deutsche Germanistin 1992 Assistant Professor an der John Hopkins University in Baltimore geworden. Dieser amerikanischen Elitehochschule blieb sie fortan treu: 1998 wurde sie dort Associate Professor, 2002 schließlich Professorin für Germanistik sowie Director of Film and Media Studies. Im Frühsommer 2002 verbrachte sie einen zweimonatigen Aufenthalt als Gastwissenschaftlerin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin.

Theisens Kollege an der John Hopkins University, der inzwischen an der Yale University lehrende Professor Rüdiger Campe, hob in einem Nachruf hervor, dass Bianca Theisen sich besonders ausgezeichnet habe durch ihre Verbindung von Klarheit, Eleganz und Komplexität. Diese seltene Fähigkeit habe sich sowohl in ihren Veröffentlichungen als auch bei ihren Vorlesungen eindrucksvoll gezeigt. Campe, selbst ein Kleist-Experte ersten Ranges, wies darauf hin, dass sie zahlreiche Doktoranden mit großem Einsatz betreute; in den Dissertationen jüngerer Wissenschaftler wie Zachary Sng, Jocelyn Holland oder Christiane Arndt findet man dankende Hinweise auf Theisens Unterstützung. Die außerordentliche wissenschaftliche Wertschätzung, die Literaturwissenschaftler Theisens Lebenswerk entgegenbrachten, kam auch darin zum Ausdruck, dass eine von Rüdiger Campe im Jahr 2006 herausgegebene Sonderausgabe der hoch angesehenen Fachzeitschrift „Modern Language Notes“ ausschließlich ihr gewidmet war. Diese Sonderausgabe enthält posthum herausgegebene Arbeiten Theisens aus den Jahren 1996 bis 2004 sowie Beiträge von einem Kolloquium, das im Oktober 2005 zu ihren Ehren veranstaltet worden war.

Bianca Theisen, die mit dem Mediziner Johannes Reim verheiratet war und mit ihm einen damals fünf Jahre alten Sohn hatte, erlag im November 2004 ihrer Krebserkrankung. Man kann nur erahnen, welch eminenten Rang sie als Wissenschaftlerin noch erreicht hätte, wenn ihr ein längeres Leben vergönnt gewesen wäre.

Verfasser: Gregor Brand

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