Carl Pirath

Verkehrswissenschaftler aus Hellenthal

284_pirath_16_16Klassiker der Verkehrswissenschaft oder auch „Galionsfigur der Verkehrswissenschaft“ (Anette Schlimm): Das sind gängige Charakterisierungen des im Mai 1884 in Hellenthal geborenen Verkehrswissenschaftlers Carl Pirath. Diese und ähnliche Bezeichnungen drücken die überragende Rolle aus, die Professor Dr.-Ing. Dr. rer. pol.
h. c. Dr.-Ing. E. h. Carl Pirath bei der Entwicklung und theoretischen Fundierung der Verkehrswissenschaft in Deutschland spielte.

Der brillante Intellekt, den der Protestant Pirath in seinen zahlreichen Arbeiten zeigte, ging aus dem schier unerschöpflichen Begabungsreservoir der alten Nordeifler Reidemeisterfamilien hervor. Ungewöhnlich war bei seiner Geburt ebenso das hohe Alter der Eltern, des Landwirts und Fabrikanten Peter Pirath (1817–1893) und dessen Ehefrau Emma Axmacher (1844–1925), wie deren enormer Altersunterschied. Beide elterlichen Familien hatten jahrhundertealte Wurzeln in Hellenthal und Umgebung; bemerkenswert ist, dass der Familienname des Reidemeister Heinrich Achsenmacher (1630–1696), Stammvater von Piraths mütterlicher Familie, bereits einen technisch-verkehrlichen Bezug aufweist. Carl Pirath studierte nach dem Abitur am Schleidener Gymnasium von 1902 bis 1907 Bauingenieurwesen an den Technischen Hochschulen in Hannover und Danzig. Anschließend absolvierte Dipl.-Ing. Pirath eine Ausbildung zum Regierungsbauführer des Eisenbahnwesens und stand nach erfolgreicher Regierungsbaumeisterprüfung bis 1925 im Staatseisenbahndienst. Persönlich wichtige Wegmarken seines Werdegangs waren zudem Heirat und Familiengründung mit Hedwig Wüstenfeld, eine mehrmonatige Studienreise in den osmanisch beherrschten Orient und die vierjährige Soldatenzeit während des Ersten Weltkriegs. Die folgenden Friedensjahre gaben Pirath die Gelegenheit zu tiefgründigen und faktenreichen wissenschaftlichen Studien im Verkehrsbereich. In seiner Dissertation widmete er sich ebenso wie in bahnbrechenden Fachaufsätzen dem Thema „Anteil der Arbeitsleistung des Menschen an den Leistungen der Verkehrsmittel“. Seine neuen arbeits- und betriebswissenschaftlichen Erkenntnisse gingen dabei teilweise auf Erhebungen zurück, die er bereits vor dem Weltkrieg durchgeführt hatte. Kennzeichnend für die frühen Arbeiten Piraths, ebenso wie für seine späteren Forschungen ist die Verbindung von präziser Beobachtung der Realität mit ihrer theoretischen Durchdringung durch eine wissenschaftliche Herangehensweise. Pole des pirathschen Denkens waren einerseits Rationalisierung, Modernisierung und Optimierung, andererseits der Versuch, die sich ständig verändernden Fakten in einer von Vernunft bestimmten großen Ordnung zusammenzudenken. 1934 legte Pirath – seit 1925 ordentlicher Professor auf dem Lehrstuhl für Eisenbahn- und Verkehrswesen der TH Stuttgart – mit dem Buch „Die Grundlagen der Verkehrswirtschaft“ ein Werk vor, das seinem Titel als Grundlagenschrift alle Ehre machte. Als kaum weniger richtungweisend gelten etliche weitere Veröffentlichungen Piraths, von denen hier nur noch „Der Nachtluftverkehr“ (1936), oder „Der Weltluftverkehr. Elemente des Aufbaus“ (1938) genannt seien. Dass es bei diesen Werken um Fragen des Luftverkehrs ging, war kein Zufall. 1929 hatte Pirath das damals weltweit einzigartige Verkehrswissenschaftliche Institut für Luftfahrt an der TH Stuttgart gegründet und sich seitdem intensiv mit allen möglichen Aspekten des Luftverkehrs befasst – Pionierleistungen in diesem damals noch in den Kinderschuhen steckenden Transportbereich. Carl Piraths Konzeption eines Weltluftverkehrsnetzes zeigte einmal mehr die für ihn selbstverständliche Einbeziehung verkehrswirtschaftlicher Fragen in die Verkehrswissenschaft. Mit dem extremen Nationalismus der neuen NS-Machthaber konnte der global denkende Preuße aus dem Eifler Grenzgebiet nichts anfangen: „Gegenüber dem NS-Regime hat sich Pirath sehr reserviert verhalten und seine Kontakte auf dienstliche Belange beschränkt.“ (Wolfgang Weber). Im Zweiten Weltkrieg drängten Kriegsverhältnisse und politische Rahmenbedingungen Pirath dazu, sich vornehmlich auf die Verkehrsplanung und städtische Neugestaltung seiner Wahlheimat Stuttgart zu konzentrieren. Einige Jahre nach Kriegsende wurde sein unter Besatzungsverboten leidendes Luftfahrt-Institut, das er jahrzehntelang als Direktor leitete, als Verkehrswissenschaftliches Institut Stuttgart offiziell wiedereröffnet. Pirath widmete sich inzwischen stärker Fragen des Personennahverkehrs, wobei dieser Bereich für den seit jeher an allen Verkehrsfragen maximal interessierten Wissenschaftler wahrlich keine Terra incognita war. Der ruhig-zurückhaltende Eifler, „eine absolute Respektsperson“ (W. Weber), wurde vielfach geehrt. Bis heute hält der von der Deutschen Verkehrswissenschaftlichen Gesellschaft e.V. an Nachwuchswissenschaftler für herausragende ingenieurwissenschaftliche Arbeiten vergebene Carl-Pirath-Preis sein Andenken lebendig. Tragischerweise erlag der bis zuletzt vitale Verkehrswissenschaftler im Januar 1955 siebzigjährig in Stuttgart den Folgen eines Verkehrsunfalls; seine Tochter Hertha Fleiner (geb. Pirath, 1925-2015) starb 60 Jahre später.

Verfasser: Gregor Brand

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