Charietto

Germanischer Krieger aus spätrömischer Zeit

„Er war ein Mann, der an Körpergröße und Tapferkeit alle übertraf.“ So beschrieb um das Jahr 500 der spätantike Geschichtsschreiber Zosimos den germanischen Krieger Charietto, der sich rund 150 Jahre zuvor im linksrheinischen römisch-germanischen Grenzgebiet legendären Ruhm verschafft hatte. Die Tatsache, dass man sich trotz dieser Zeitspanne und der Fülle  überragender germanischer Soldaten in der Spätantike noch an Charietto erinnerte, deutet auf einen außergewöhnlichen Nimbus dieses Mannes hin.

Wo Charietto geboren wurde und aufwuchs, ist nicht bekannt. Nach überwiegender Historikeransicht war er fränkischer Herkunft. Franken versuchten im 4. Jahrhundert erfolgreich, sich in immer größerer Zahl linksrheinisch dauerhaft im römischen Reichsgebiet festzusetzen. Zu Lebzeiten von Charietto waren sie insbesondere auch in der Nordeifel präsent, und manches spricht dafür, dass er aus den Reihen dieser Franken stammte. Politisch-militärisch standen fränkische Sippen und ihre Anführer damals teils auf Seiten der römischen Staatsmacht, teils bekämpften sie diese. Diese Verbindungen waren, entsprechend den unruhigen spätrömischen Verhältnissen insgesamt, brüchig und wandelhaft. Manchmal wechselten germanische Kriegsherren mehrfach die Fronten. Offiziere fränkischer Abstammung erreichten im 4. Jahrhundert im römischen Militär höchste Ränge, einige (z. B. Magnentius oder Silvanus) ließen sich sogar zum Kaiser ausrufen.

Die frühesten Informationen über Charietto finden sich im Werk seines etwa gleichaltrigen Zeitgenossen, des spätantiken Historikers Ammianus Marcellinus (ca. 330-400), der selbst im römischen Heer als Soldat gedient hatte. Ammianus hebt hervor, dass Charietto als Krieger mit staunenerregender Kühnheit kämpfte. Aufgrund der Angaben von Ammianus und anderer spätantiker Autoren folgerten die deutschen Historiker Welwei und Mischa Meier, dass Charietto im späten 4. Jahrhundert eine weitbekannte Persönlichkeit war und ihr sogar „ein gewisser Vorbildcharakter für römische Soldaten“ zukam.

Die ersten Aktionen von Charietto richteten sich gegen germanische Raubkrieger, die im linksrheinischen Grenzgebiet die Bevölkerung bei ihren auf Beute und Kampfruhm angelegten Überfällen in Angst und Schrecken versetzten. Möglicherweise war Charietto anfangs selbst Mitglied einer solchen „Räuberbande“ gewesen, bevor er sich nach Trier begab und sich dort in den Dienst der imperialen römischen Staatsmacht stellte. Die Motive für diesen Schritt lassen sich nicht mehr ermitteln; es kann dafür eine Vielzahl von Gründen sowohl materieller als auch ideeller Art gegeben haben. Seinen Gegnern wurde er jedenfalls nun ein besonders gefürchteter Feind.

Nach Angaben des Geschichtsschreibers Eunapios von Sardes zeichnete sich Charietto nicht nur durch gigantische Körperkraft, sondern auch durch Klugheit und Verschlagenheit aus. In einer Art Privatkrieg bekämpfte er die germanischen Raubkrieger. Er verbarg sich allein in den dichtesten Wäldern und lauerte ihnen dort auf. Wenn diese dann nachts, von Trunkenheit und Schlaf übermannt, unaufmerksam waren, überfiel Charietto sie und schlug möglichst vielen den Kopf ab. Mit den grausigen Siegestrophäen kehrte er in die Stadt – vermutlich Trier – zurück und zeigte sie der Bevölkerung. Obwohl solche Selbstjustiz gegenüber den Raubbanden eigentlich nicht legal war, machte ihr Erfolg den fränkischen Herkules gefürchtet und populär zugleich. Andere Germanen schlossen sich ihm an, und die römischen Herrscher, eventuell sogar Kaiser Julian persönlich, schätzten ihn als Kampfgenossen hoch ein. Der Verlauf seiner offenbar schnellen Militärkarriere in Römerdiensten ist im Einzelnen nicht bekannt, aber um das Jahr 365 war Charietto Kommandant in beiden germanischen Provinzen des Imperiums. In dieser militärischen Führungsposition sah er sich im Spätsommer jenes Jahres konfrontiert mit erneut aufflammenden Überfällen von Alemannen im linksrheinischen Gebiet. Das römische Militär schaffte es nur mit Mühe, diese Germanenscharen wieder zum Rückzug zu zwingen. Als im darauffolgenden strengen Winter der Rhein zufror, nutzten Alemannen dies für neue Vorstöße. Charietto persönlich stellte sich ihnen mit seinen Soldaten im Januar 366 zur Schlacht entgegen. Nach Anfangsgefechten mit Pfeilen, Speeren und Lanzen kam es bald zum Schwerternahkampf. Die römischen Soldaten ergriffen die Flucht, obwohl sie Charietto durch sein Beispiel und seine Worte zum Standhalten anstachelte. Er selbst wehrte sich heftig, bis ihn ein Wurfspeer tödlich traf. Die Erinnerung an ihn wurde möglicherweise nicht nur durch die oben erwähnten Geschichtsschreiber bewahrt. Manche Sagenforscher halten es für möglich, dass Charietto sogar in den berühmten und bis nach Skandinavien verbreiteten Sagenkreis um Dietrich von Bern Eingang fand und das historische Vorbild für den dort erwähnten „Samson“ bildet. Diese Hypothese könnte für Eifelforscher schon deswegen von Interesse sein, weil der Sagenexperte Otto Klaus Schmich (1931-2008) den historischen Kern der Dietrich-Sage in der Nordeifel verortete.

Verfasser: Gregor Brand

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