Ferdinand und Victor Kinon Glasfabrikanten aus Stolberg

Das für den technischen Fortschritt im 20. Jahrhundert so ungemein wichtige Verbund-Sicherheitsglas wurde in Deutschland erstmals von Fabrikanten aus der Eifel industriell hergestellt: den in Stolberg geborenen Brüdern Ferdinand (geb. 1867) und Victor (geb. 1869) Kinon. Sie gehörten zu den fünf Söhnen des Fabrikanten Nikolaus Kinon (1831 – 1887) und dessen Ehefrau Henriette Willems (1843 – 1925); die Familie wurde vervollständigt durch vier Töchter. 1889 emigrierte der erst 17-jährige Sohn Ludwig (Louis) in die USA, wo er sich in New Jersey als Apotheker niederließ und eine Familie gründete; er besuchte öfters seine Eifler Verwandtschaft und starb 1939.

Das Familienoberhaupt Nikolaus Kinon war aus Malmedy zugezogen, wo die Kinons seit Generationen Gerbereibetriebe besaßen. Nikolaus wandte sich einem ganz anderen Wirtschaftszweig zu: Er gründete 1871 in Burtscheid, dem Heimatort seiner Gattin, eine Glas- und Spiegelmanufaktur. Möglicherweise hatte ihn eine schon länger bestehende Glashütte in Stolberg auf diese Idee gebracht, deren Umsetzung angesichts des zu erwartenden steigenden Glasbedarfs Erfolg versprach. Nach dem recht frühen Tod des Vaters setzten Ferdinand und Viktor Kinon die Arbeit im – vorübergehend von der Mutter geführten – Unternehmen fort und traten 1894 formell als Gesellschafter in die Firma ein. Sie leiteten fortan das Kinon-Unternehmen gemeinsam: Ferdinand war für den kaufmännischen Bereich zuständig, Viktor für den technischen. Bereits 1894 gründeten sie eine Zweigniederlassung in Köln, später kamen Werke in Düsseldorf, Leipzig und Berlin hinzu. Beiden Söhnen war es wichtig, das Tätigkeitsfeld auszubauen und auf Spezialbereiche auszudehnen. Über die allgemeine Glas- und Spiegelherstellung hinaus verlegten sie sich unter anderem auf die Glasbiegerei sowie die Herstellung von Eisblumenglas und Glasfirmenschildern.

Zu den Erfolgsrezepten des Familienunternehmens gehörte die wachsame Beobachtung des technischen Fortschritts bei der Glasproduktion. 1910 wurde zu einem historischen Jahr der Firmengeschichte: Kinon erwarb von einer französischen Firma Rechte an einem neuartigen Glaserzeugnis und Glasherstellungsverfahren, das der Pariser Künstler, Schriftsteller und Chemiker Édouard Bénédictus (1878 – 1930) unlängst erfunden hatte. Bei diesem innovativen Produkt handelte sich um mehrschichtiges Verbund-Sicherheitsglas (VGS), das geradezu revolutionäre Eigenschaften aufwies. Beim VGS werden Glasplatten unter hohem Druck und Hitze mit einer dazwischen liegenden Schicht zu einer reißfesten und zähen Einheit verbunden. Neben anderen Vorteilen besteht der Vorzug des Verbund-Sicherheitsglases in seiner exzellenten Splitterbindung. Man kann kaum ermessen, wie viele Verletzungen aufgrund unterbliebener Glaszersplitterung im Lauf der Jahrzehnte vermieden wurden.

Anfangs bestand die Zwischenschicht aus Cellulose- und Gelatinematerial, später wurde dafür Kunststoff verwendet. Nachdem unter Victor Kinons Leitung 1913 eine Fabrikationsanlage für dieses Verbundglas erstellt worden war, wurden die Kinons nach Angaben des Technikhistorikers Hans Christoph Graf von Seherr-Thoß (1918 – 2011) die ersten, die im Deutschen Reich Sicherheitsglas serienmäßig produzierten. Bereits ein Jahr später brachte der aufgeflammte Weltkrieg neue Einsatzmöglichkeiten für das Sicherheitsglas, insbesondere im Panzerbau oder bei der Entwicklung von Fliegerbrillen. Schusssichere Kinon-Blöcke (Sehschlitze mit Panzerglas) fanden im Panzerbau international Verwendung, etwa beim japanischen Kampfpanzer T 61. Die stark steigende zivile Verwendung erlebte Firmenchef Ferdinand Kinon nur noch ansatzweise: Er starb am 8.11.1919 in Aachen, fast genau ein Jahr nach dem Ende von Weltkrieg und Kaiserreich. Aus seiner Ehe mit Helene Westendorp (1874 – 1959), einer Tochter des Fotografen Eugen Westendorp, ging als einziges Kind die Tochter Leonie hervor. Nach dem Tod Ferdinands wurde das Kinon-Unternehmen von seinem Bruder Victor (gestorben 1934) und später von dessen Söhnen Walter, Ferdinand und Hans fortgeführt.

In den Jahren der Weimarer Republik wurde „Kinonglas“, wie der Handelsname des kinonschen Verbundsicherheitsglases lautete, bereits vielfältig verwendet. Zusehends wichtig wurde es für Windschutzscheiben von Autos. Ein denkwürdiger Werbeerfolg gelang Kinon, als der prunkvolle Mercedes-Benz Nürburg 460.2, den die Stuttgarter Autobauer dem damaligen Papst Pius XI. schenkten, mit stark getöntem splitterfreiem Kinonglas ausgestattet wurde. Das Unternehmen, das immer noch als „Glas- und Spiegelmanufactur N. Kinon, Aachen“ firmierte, konnte damit seinem Slogan: „Kinonglas splittert nicht“ noch größere Bekanntheit verschaffen. Auch nach dem zweiten Weltkrieg wurde von Kinon weiter auf höchstem technischem Niveau Glas produziert. 1952 ging das Familienunternehmen in den Besitz der VEGLA Vereinigte Glaswerke GmbH über und wurde Teil des traditionsreichen französischen Industriekonzerns Saint-Gobain. Fast 150 Jahre nach seiner Gründung wird das Kinon-Erbe derzeit von Vetrotech Saint-Gobain fortgeführt. Die Spezialisierung auf maximal feuerfestes und widerstandsfähiges Verbundglas folgt der Richtung, die Ferdinand und Viktor Kinon vorgaben.

Verfasser: Gregor Brand

Aktuelle Ausgabe kostenfrei als E-Paper lesen
Eifelzeitung E-Paper Aktuelle Ausgabe kostenfrei als E-Paper lesen