Jakob Lehnen – Maler aus Hinterweiler

Der preußische Maler Adolph Menzel gehört zu den berühmtesten deutschen Künstlern des 19. Jahrhunderts. Wenn man auf seine Biographie zu sprechen kommt, wird oft hervorgehoben, wie klein Menzel körperlich war: nach neuerer Forschung nur knapp 150 cm. Im Vergleich zu dem 1803 in Hinterweiler geborenen Jakob Lehnen war Menzel allerdings ein Riese: Lehnens Körperhöhe betrug nur 32 rheinische Zoll, also etwa 85 cm. Im Jahr 2015 veröffentlichte Gerd Bayer (Bausendorf) ein schön bebildertes Buch über diesen Eifler „Malerzwerg“ Jakob Lehnen, in dem er – teils fiktiv, teils dokumentarisch – dessen seltsames Schicksal vorstellt.  
Eine höchst wertvolle Quelle zur Biographie Lehnens, die Bayer anscheinend nicht bekannt war und wohl auch von anderen Lehnen-Interessierten bisher übersehen wurde, findet sich in der Nummer 617 (November 1830) der von Ludwig Friedrich von Froriep herausgegebenen Zeitschrift „Notizen aus dem Gebiete der Natur- und Heilkunde“. Darin teilt der Koblenzer Medizinalrat Dr. Heyman unter dem Titel „Beobachtung über eine merkwürdige Hemmung in der körperlichen Entwickelung im Verlaufe des kindlichen Alters, bei mehreren Mitgliedern einer Familie“ aufschlussreiche Details zu Jakob Lehnen und dessen Familie mit.

Nach Heymans Angaben war Jakob das zweite Kind und der älteste Sohn der wohlhabenden Ackersleute Johann Lehnen und Anna Margaretha Bäcker (Becker); er hatte noch zehn jüngere Brüder. Seine ältere Schwester Margaretha (geboren an Heiligabend 1800) war laut Dr. Heyman „groß und stark“ und „bereits Mutter starker Kinder“. Jakobs Eltern waren „von mittlerer Größe, muskulös und kräftig, wie es den Bewohnern dieser Gegend eigen ist. Sie stammen von ebenfalls kräftigen, zum Teil noch lebenden Eltern“, stellte Dr. Heyman fest und erwähnte, dass von den elf Kindern des Paares Lehnen-Bäcker zum Zeitpunkt seiner Mitteilung (1830) noch acht lebten. Jakob, der spätere Maler, war ein medizinisches Phänomen: Er wuchs seit seinem vollendeten vierten Lebensjahr nicht mehr. Ebenso erging es seinen zwei Brüdern Johann (geb. 1806) und Johann Nicolas (geb. 1816), die gleichfalls kindlich klein blieben – ganz im Gegensatz zu anderen Brüdern, die sogar besonders stark und robust waren. Auf der Suche nach den rätselhaften Gründen hatte Dr. Heyman die Lehnen-Brüder persönlich untersucht. Bei Johann fiel ihm auf, dass dessen Genitalien am unvollkommensten ausgebildet waren und – bei starkem Haupthaar – die Körperbehaarung fehlte. Bei Jakob Lehnen lag ebenfalls eine „kümmerliche Ausbildung der Genitalien“ vor; beide Brüder zeigten laut Dr. Heymann keinerlei sexuelle Neigungen. Allgemein jedoch erfreuten sie sich exzellenter Gesundheit. Trotz auffallend geringen Nahrungsbedürfnisses hatten sie sich auch als junge Erwachsene „das üppige Äußere wohlgenährter Kinder von vier Jahren erhalten“, sogar die Milchzähne waren ihnen geblieben. Bemerkenswert ist Dr. Heymans Hinweis, dass die Brüder gegen geistige Getränke wie Wein einen Widerwillen hatten und durch geringste Mengen davon berauscht und krank wurden. Dies widerspricht deutlich dem Bild, dass der Schriftsteller Otto Brües (1897-1967) in einem Roman von Jakob Lehnen zeichnete. Insgesamt herrschte bei den kleinwüchsigen Lehnen-Brüdern „ein vollkommenes Ebenmaß in allen Teilen“. Bei dem Bericht von Dr. Heyman fällt aus heutiger Sicht der damals völlig andere Umgang mit Persönlichkeitssphäre und Datenschutz auf. Er veröffentlichte über die Lehnen-Brüder intimste körperlich-medizinische Details, obwohl diese ja mitten im Leben standen!

Jakob und Johann Lehnen besuchten das Königlich Preußische Gymnasium (heute Görres-Gymnasium) in Koblenz. Heyman zufolge waren sie gute Schüler, wenn es auf Anschauung und Gedächtnis ankam, zeigten jedoch für höhere Sprachkenntnisse und wissenschaftliche Ausbildung weder Lust noch Anlage. Schon auf dem Gymnasium beeindruckte Jakobs zeichnerische Begabung. Der Kunstlehrer Konrad Zick, Spross der bekannten Malerfamilie Zick, förderte den kleinen Eifler, und Zick war es auch, der ihm den Weg an die Kunstakademie Düsseldorf ebnete. Dort erlebte Lehnen ab 1825 den ruhmvollen Aufstieg der Düsseldorfer Malerschule und gestaltete ihn als seinerzeit bekannter Stillleben-Spezialist selbst mit. Der Künstler mit dem kindlich-schönen Gesicht, gesegnet mit einem fröhlichen, lebhaften Naturell – 1838 sogar populärer Karnevalsprinz in Koblenz – faszinierte seine Malerfreunde. Bayers Buch enthält einige Porträts, die Maler wie Adolph Schroedter oder Jakob Becker von Lehnen anfertigten. Eindrucksvoll sind auch die Abbildungen von Lehnens farbstarken Bildern selbst, wo er besonders bei Früchtestillleben oder Jagdstillleben seine Könnerschaft offenbarte. Lehnens Bilder riefen bei Kritikern sowohl hohe Anerkennung als auch Tadel hervor. Um 1840 gehörte er jedenfalls zu den bekanntesten rheinischen Stillleben-Malern, von dem noch manche künstlerische Entwicklung zu erwarten war. Das Schicksal machte diese Hoffnung zunichte. Im September 1847 fand man Jakob Lehnen tot hinter seiner Staffelei in Koblenz. Der lebensfrohe „Malerzwerg“ war im Alter von 44 Jahren offenbar einem Schlaganfall erlegen.

Verfasser: Gregor Brand

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