Oscar Holderer

Raketeningenieur aus Prüm

316_saturn_50_16Trotz der eindrucksvollen Zahl historisch bedeutender Menschen aus der Eifel ist es doch ein ausgesprochen seltenes Ereignis, wenn der Tod einer solchen Persönlichkeit international beachtet wird. So aber verhielt es sich, als im Mai 2015 der in Prüm geborene Raketenpionier Oscar Holderer im Alter von 95 Jahren verstarb und Nachrufe in europäischen und amerikanischen Zeitungen erschienen.

Dass Holderers Tod auf diese Aufmerksamkeit stieß, hing entscheidend damit zusammen, dass er das letzte Mitglied aus dem „Paperclip-Team“ gewesen war – jener Gruppe von weit über 100 hochqualifizierten deutschen Wissenschaftlern und Ingenieuren, die nach dem Ende des 2. Weltkriegs von den Amerikanern in die USA gebracht wurden und von da an ihre Intelligenz und ihr einzigartiges raketentechnisches Fachwissen in den Dienst der Siegermacht stellten. Diese Raketenexperten, die im Weltkrieg in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde die V2-Rakete entwickelt hatten, bildeten den Kern derjenigen, die in den USA die legendäre Saturn V-Rakete schufen – jenes phänomenale technische Meisterwerk, mit dem 1969 erstmals Menschen den Mond erreichten. Die Übernahme dieser deutschen Forscherelite 1945 stand im größeren Zusammenhang der umfassenden Aneignung deutschen technologischen Wissens durch die Alliierten als Folge des Weltkriegs. Im Rahmen der „Operation Overcast“ verwerteten die US-Amerikaner in den ersten Nachkriegsjahren sämtliche deutschen Patente, was ihnen neben anderen Vorteilen jahrelange eigene Forschungsarbeit ersparte. Nach Schätzungen des renommierten US-Historikers John Gimbel (1922 – 1992) in seinem Buch „Science, Technology, and Reparations. Exploitation and Plunder in Postwar Germany“ lag der materielle Vorteil dieses erzwungenen Wissenstransfers für die USA im – nach heutigem Wert – dreistelligen Milliarden-Bereich und betrug ungefähr das Achtfache dessen, was die junge Bundesrepublik damals an Marshallplan-Hilfe erhielt. In jüngerer Zeit (2014) hat die US-Journalistin Annie Jacobsen dieser Thematik ein umfangreiches und hoch gelobtes Buch gewidmet („Operation Paperclip“). Dabei spielte auch die NS-Vergangenheit vieler deutscher Raketenbauer eine wichtige Rolle, insbesondere wegen der unmenschlichen Arbeitsbedingungen der beim Raketenbau eingesetzten Zwangsarbeiter. Oscar Holderer selbst blieb zeitlebens von derartigen Vorwürfen verschont.

Viele der von der Operation Paperclip betroffenen Wissenschaftler und Techniker, darunter auch Holderer, sahen die Abwanderung in die USA als Glücksfall. Einerseits waren sie damit vor dem Zugriff der stalinistischen Sowjetunion gerettet, die ebenfalls brennendes Interesse an der deutschen Forscherelite hatte und all diejenigen Spitzenkräfte in die UdSSR brachte, die sie fassen konnte. Zum anderen konnten die sogenannten Paperclip-Boys in den USA weiter an dem arbeiten, was sie fundamental faszinierte: die Raketenforschung. Die Gruppe der deutschen Spezialisten unter ihrem Chef und Vordenker Wernher von Braun (1912 – 1977) wurde 1946 zuerst nach Fort Bliss gebracht ins riesige amerikanische Raketentestgelände im Gebiet von New Mexiko und Texas. 1950 erfolgte die Verlegung nach Huntsville im US-Bundesstaat Alabama. In der Kleinstadt Huntsville, die durch den Zuzug der NASA-Leute im Lauf der Jahre zur großstädtischen „Rocket City“ wurde, erwarb Holderer mehrere Hektar ehemaliger Baumwollfelder und baute sich mit viel Eigenarbeit ein weitläufiges Anwesen, in dem er bis ans Lebensende wohnte. 1955 nahm der gebürtige Prümer, dem Alabama zur neuen Heimat wurde und der dort eine Familie gründete, die amerikanische Staatsbürgerschaft an.

Oscar Holderer, Sohn des Regierungslandmessers Richard Holderer und dessen Ehefrau Helene Grawe, war seinerzeit nach dem Maschinenbaustudium nach Peenemünde beordert worden, um dort an der Raketen-Entwicklung mitzuarbeiten. Als Ingenieur spezialisierte sich Oscar Holderer auf den Bau von Windkanälen für Raketen. Unter seiner Leitung und nach seinen Plänen wurde in den USA der Windkanal errichtet, in dem die Saturn V-Rakete getestet und für ihre Weltraumflüge optimiert wurde. Bemerkenswert ist dabei, dass den Ingenieuren nicht annähernd die Hilfsmittel zur Verfügung standen, die heute üblich sind; vor allem beim Einsatz von Computern waren sie auf – aus heutiger Sicht – äußerst einfache Modelle angewiesen. Nach seiner Pensionierung im Jahr 1973 blieb Holderer weiterhin der NASA verbunden und wirkte am Aufbau des U.S. Space & Rocket Center (USSRC) mit, dem weltweit größten Raumfahrtmuseum mit einer einzigartigen Sammlung von Materialien zur Geschichte der Raumfahrt. Für das vielbesuchte USSRC entwickelte Holderer Simulatoren, darunter einen Simulator, der Besuchern die Erfahrung eines Mondspaziergangs nahebringt. Als der Wissenschaftsjournalist Alexander Stirn im Jahr 2009 Holderer in Huntsville besuchte, traf er den fast 90-Jährigen als immer noch aktiven „Handwerker“ an, der in seiner Werkstatt gerade ein altes Auto reparierte. “Ich war schon immer ein ganz passabler Konstrukteur, ein Schrauber eben”, erklärte Holderer verschmitzt mit der Art von sympathischer Untertreibung, für die der gebürtige Eifler bekannt war.

Verfasser: Gregor Brand

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