Sigbert Ganser

– Neurologe und Psychiater aus Eifler Notarsfamilie

Im Jahr 2013 würdigte der Neurologe und Psychiater Professor Otto Bach (geb. 1937) die herausragende Lebensleistung Sigbert Gansers und bezeichnete diesen dabei als „bedeutenden sächsischen Psychiater“. Stellt man auf Dresden ab, den jahrzehntelangen beruflichen Hauptwirkungsort Gansers, so ist diese Einordnung als „sächsisch“ gerechtfertigt. Seiner Herkunft nach aber stammte Ganser aus einer Eifler Juristenfamilie. Sigbert (auch: Siegbert) Joseph Maria Ganser war ein Sohn des Kgl. Preußischen Notars Peter Joseph Ganser und dessen Ehefrau Katharina Jonas; er wurde 1853 in Rhaunen geboren, wo sein Vater damals amtierte. Notar P. J. Ganser selbst war im Vulkaneifelort Lissendorf zur Welt gekommen; dort lebten dessen Eltern, ehe sie 1816 nach Feusdorf zogen. Auch Sigberts Großvater Johann Josef Baptist Ganser (geb. 1780 in Blankenheim) war Notar. Außer Juristen gab es auch Theologen in der Familie: Ein Onkel des Mediziners Sigbert Ganser war der Oberkailer Pfarrer Sigbert Anton Ganser, Verfasser einer historischen Monographie über Oberkail. Abbé Valentin Ganser (1775-1842), Leiter des vom Schriftsteller Balzac besuchten Gymnasiums St. Louis in Paris, dürfte ebenfalls Angehöriger dieser Familie gewesen sein.
Sigbert Ganser verbrachte seine Kinderjahre überwiegend in Prüm, wohin sein Vater 1855 als Notar versetzt worden war. Da man damals in Prüm kein Abitur machen konnte, wechselte Ganser nach Münstereifel, ehe er in Würzburg, Straßburg und München Medizin studierte. Nach seiner Promotion (1876) arbeitete Dr. Ganser, der sich zunehmend auf Neurologie und Psychiatrie spezialisierte, zunächst als Assistenzarzt in der Irrenabteilung des Würzburger Juliusspitals. 1877 wurde er in der Kreis-Irrenanstalt München Assistent des berühmten Psychiaters Bernhard von Gudden – also jenes renommierten Mediziners, der in einem historisch folgenreichen Gutachten König Ludwig II. von Bayern für geisteskrank erklärte und 1886 mysteriös zusammen mit König Ludwig im Starnberger See ertrank. Ganser, der sich 1880 in München mit „Untersuchungen über das Gehirn des Maulwurfs“ habilitiert hatte, war bereits 1884 als Oberarzt in die Brandenburgische Landesanstalt Sorau gewechselt. 1886 wurde der 33-jährige Dr. Ganser Chef der Irrenabteilung des Stadtkrankenhauses Dresden-Friedrichstadt, schließlich Leiter der Dresdner Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke und Sieche. Seine ungemein intensive jahrzehntelange Tätigkeit in Dresden machte Sigbert Ganser zu einem der führenden Psychiater im Deutschen Reich. Ganser gehörte zu den Mitgründern der „Vereinigung der mitteldeutschen Psychiater und Neurologen“, er leitete zahlreiche wissenschaftliche Konferenzen, erstellte eine „ungeheure Zahl von psychiatrischen Gutachten“ (Georg Ilberg) und gestaltete im Sächsischen Landesgesundheitsamt die Medizinalpolitik des Landes maßgeblich mit. Dass sein Name auch heute noch in medizinischen Publikationen auftaucht und in der Psychiatrie weltweit nicht unbekannt ist, hängt allerdings weniger mit seinen allgemeinen Beiträgen zur Weiterentwicklung der Psychiatrie zusammen, als vielmehr damit, dass eine Erkrankung seinen Namen trägt: das „Ganser-Syndrom“. 1897 hatte Ganser in einem Vortrag erstmalig diesen von ihm so genannten „eigenartigen hysterischen Dämmerzustand“ beschrieben, zu dessen diagnostischen Merkmalen Amnesie, Desorientiertheit und unsinnige Antworten auf Fragen („Vorbeiantworten“) gehören. Da derartige Merkmale medizinisch oft nur schwer einzuschätzen und abzugrenzen sind, wird bis heute der genaue Charakter dieses psychopathologischen Syndroms kontrovers diskutiert.
In der psychiatrischen Praxis hatte es der als sehr menschenfreundlich geschilderte Arzt mit ganz anderen Problemen zu tun. Mit welchen Bedingungen Ganser konfrontiert war, schilderte sein langjähriger Mitarbeiter und Schüler Georg Ilberg – selbst ein bedeutender Psychiater – 1923 folgendermaßen: „Es waren ihm aber damals nicht nur die Geisteskranken anvertraut. Unter seiner Leitung stand noch eine große Abteilung für Nervenkranke und chronisch innere Kranke, und gerade die allerschwersten Fälle von Tuberkulose, unheilbarem Unterleibskrebs usw. waren hier ärztlich zu versorgen …“. Hinzu kamen vor allem zahlreiche Opfer der Trunksucht – eine Krankheit, deren Bekämpfung Ganser als ein Hauptanliegen der Gesundheitspolitik ansah. Man kann wohl kaum ermessen, wie viel menschliches Leid und Elend Ganser bei seiner Arbeit kennenlernte: „Aus Dresden und Umgebung kommen in seine Abteilung fast alle, die versucht haben, ihrem Leben ein Ende zu machen. Unvergeßlich ist es seinen Schülern, wie er diese im Lebenskampfe Gestrandeten trotz ihrer Verstimmung und anfänglicher Ablehnung zum Erzählen ihres Schicksals zu bestimmen weiß, wie er durch seine vertrauenerweckende Persönlichkeit Geängstigte und Verzweifelte wieder aufzurichten versteht“. Mit Nachdruck betonte Ganser, dass auch die Schwächsten Lebensrechte haben – das war gerade in den damaligen Diskussionen über „unwertes Leben“ leider keine Selbstverständlichkeit. Der vielfach geehrte humanistisch gesonnene Psychiater starb 1931 in Dresden.

Verfasser: Gregor Brand

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