Erinnerungen an das Verlorene

Rezension zur zweiten Auflage des Buches von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Simon „Die Gärten der verlorenen Erinnerung“

Beim Lesen fallen einem Gottfried Kellers Verse ein:
Die Zeit geht nicht, sie stehet still, wir ziehen durch sie hin…

Die Generation, die in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts geboren wurde, ist nicht durch die Zeit gezogen, sondern gerast. Es haben in der Geschichte der Menschheit noch keine so tiefgreifenden Veränderungen auf allen Ebenen stattgefunden, wie sie die nach 1945 bis circa 1960 Geborenen erfahren haben.

Nach der Katastrophe der beiden Weltkriege wurde eine Entwicklung in Gang gesetzt, die ihresgleichen nicht hat und bis ins kleinste Eifeldorf wirkt. – Bis Anfang der Fünfzigerjahre war die Infrastruktur der Eifel von vielen selbstständigen Kleinbauern und wenigen Handwerkern geprägt, die mit ihrer Hände Arbeit weitgehend sich selbst versorgten, von den „Überschüssen“ das kaufen mussten, was sie nicht selbst anbauten oder fertigten. – Diese Zeit schildert der 1947 geborene Autor sehr nüchtern, weder klagend noch romantisierend.

Großen Einfluss in den Dörfern hatten in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Pfarrer und die Lehrer der oft einklassigen katholischen Volksschulen. Lehrer hatten Residenzpflicht, mussten im Ort wohnen und nahmen Einfluss in die Dorfpolitik. Das rigorose Einmischen der Pastöre in innerste Familienangelegenheiten ist heute unvorstellbar. Simon schildert es nüchtern, vermerkt, dass er in den Sechzigern, nach dem Zweiten Vaticanum, weltoffenere Priester kennenlernte, von denen einer ihm den „Freischwimmer“ erteilte.

Kinder hatten große Freiheit, wenn sie ihre häuslichen und Feldarbeiten verrichtet hatten, dem familiären Einfluss und dem von Lehrer und Pastor entzogen waren. Spielplatz war das Dorf mit Wäldern, Feldern und Bächen. (Ein Alptraum für heutige „Helicopter-Eltern“.) – Der Drang nach Unabhängigkeit setzte sich fort, wenn die Jugendlichen ein Moped oder das erste Auto hatten, oft alkoholisiert ihr Leben und das anderer riskierten – und auch verloren.

Die „Trini-Bar“ in Hasborn weckt bei denen, die sie erlebten, Erinnerungen an ein damals völlig neues Kneipenkonzept. Bei Trini Lehnertz gab’s zum Getränk Frikadellen, Soleier, Schnitzel, Strammer Max und diverse Schnittchen, als die meisten Dorf-Gasthäuser noch reine „Glas-Bier-Geschäfte“ waren.

Wer‘s nicht selbst erlebt hat, wird kaum ermessen können, wieviel Aufwand fürs tägliche Brot getrieben werden musste und wieviel Zeit trotzdem blieb für das Miteinander der Dörfler. – Hasborn, der Geburtsort Simons, steht für viele, wenn nicht alle Eifeldörfer, dessen technische Veränderungen der Autor beschreibt:
vom Zugtier zum Traktor, von der Handsaat zur Sämaschine, von der Sense zu Mähmaschine und Mähbinder, von der Dreschmaschine  zum Mähdrescher, um nur die gravierendsten zu nennen.

Mit der Schaffung von Industriegebieten und der Ansiedlung von Großbetrieben im nahen Wittlich war die Möglichkeit regelmäßigen Einkommens gegeben, aus Selbständigen wurden Feierabend-Bauern. „Echte“ Bauern gibt es heute in Hasborn keine mehr. Das Dorf hat sich auf Grund seiner verkehrsgünstigen Lage mit direkter Autobahnzufahrt zu einem Wohndorf entwickelt.

Der Wirtschaftsgelehrte findet keine Antwort auf die Frage, die sich ergibt, wenn man den Aufwand, den man früher für das Sammeln und die Konservierung von Heidelbeeren betrieb, ins Verhältnis setzt zu den Sekunden, die man heute braucht, um ein Glas im Supermarkt aus dem Regal zu nehmen. Das Gleiche gilt für Erbsen, die früher einen enormen Aufwand benötigten, ehe sie auf dem Teller landeten.

Was machen wir mit dieser „gesparten Zeit“? Diese Frage sollte sich stellen, wer dieses Buch erwirbt. Dass das viele sind, beweist die zweite Auflage innerhalb kürzester Frist. – Kellers Gedicht endet mit den Zeilen:

Froh bin ich, dass ich aufgeblüht in deinem runden Kranz; zum Dank trüb‘ ich die Quelle nicht und lobe deinen Glanz.

Hermann Simon hat ein glänzendes Werk geschrieben.

(Kajo Schleidweiler)

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