Fähigkeiten trainieren ist wichtiger als Vorratsdatenspeicherung

PrechtRichard David Precht spricht beim 11. Eifel-Literatur-Festival über seine Vision einer besseren Schule

Bitburg. Mit einem Vortrag von bestechender Eloquenz und Überzeugungskraft hat Philosoph Richard David Precht beim 11. Eifel-Literatur-Festival in der Stadthalle Bitburg 875 Zuhörer in Bann gezogen. Ausgehend von seinem aktuellen Buch „Anna, die Schule und der liebe Gott“ stellte er seine Vision eines revolutionierten schulischen Bildungswesens vor.

Als Richard David Precht zum Auftakt seines bereits dritten Auftritts beim Eifel-Literatur-Festivals das Podium betritt, bezeichnet er sich als „Salonphilosoph“. Wenn auch scherzhaft gemeint, ist dieser Begriff, zumindest was das joviale und eloquente Auftreten des medienerfahrenen Autors von populärwissenschaftlichen Bestsellern wie „Wer bin ich, und wenn ja wie viele?“, sehr zutreffend. Gänzlich ohne Pult und Manuskript liefert er einen druckreif gesprochenen einstündigen Vortrag, bei dem ihm die Zuhörer an den Lippen kleben. Sie haben bei den anschaulichen, mit vielen persönlichen Beispielen gespickten Ausführungen sogar oft Gelegenheit zu lachen, obwohl es hier um ein Dauerreizthema geht, das deutsche Schulsystem.

Precht macht sich frei von den damit meistens verbundenen quälenden Diskussionen und Grabenkämpfen um kleine Reformen hier oder da. Vielmehr entwirft er mit der ansteckenden Leidenschaft eines hoch motivierten Pioniers die große Vision vom Totalumbau. Überraschend führt er sie mit einem Exkurs über die Google-Brille ein. Der Zusammenhang wird jedoch schnell klar: In der Brille und ihrer möglichen Fortentwicklung als ins Auge implantierter Linse manifestiere sich der gewaltige Umbruch des Digitalzeitalters, auf den man sich auch im Bildungswesen einstellen müsse, mahnt der Philosoph. Künftig werde jedermann jedes Wissen jederzeit auf Wimpernschlag zugänglich sein. Der Stellenwert des Wissens nehme ab, wenn es kein Hoheitswissen mehr sei. „Warum müssen wir es also auswendig lernen, und warum gibt es dann die Schulpflicht?“ Ziel der Schulpflicht sei ursprünglich der Erwerb von Wissen gewesen, das für breite Bevölkerungskreise nirgendwo sonst zugänglich gewesen sei. Heute könne man es mithilfe digitaler Medien individuell zuhause anhäufen.

Doch damit erübrige sich die Schulpflicht nicht: „Lernen ist Praxis im Umgang mit anderen. Nur dadurch kann man seine Stärken und Schwächen erkennen oder Strategien generieren“, sagt Precht. Ein erfülltes Leben werde hauptsächlich durch diese nichtkognitiven Fähigkeiten bestimmt. Er plädiere daher für eine Stoffreduzierung in der Schule. Etwaigen Zweiflern führt er in einem Test die Berechtigung dieser Forderung vor Augen. Er fragt die Zuhörer, was vom Schulwissen der Unterstufe bei ihnen hängengeblieben ist, zum Beispiel: „Was ist ein Konsekutivsatz?“. Nur vier Menschen melden sich, nicht besser sieht es bei der Frage nach dem Inhalt der goldenen Bulle oder der Bedeutung von Mol-Masse aus. Warum also sollte man die Kinder weiter dem „Bulimie-Lernen“ (auswendig lernen, zur Klausur wieder ausspucken und dann vergessen) aussetzen, fragt der Philosoph, und nicht einen ganz anderen Weg gehen, der sich nach den neuesten Erkenntnissen von Kinder- und Entwicklungspsychologen richte. Und dann malt er sein Bild von einer Schule der Zukunft: Sie beginnt der Chancengleichheit halber verpflichtend ab dem dritten Lebensjahr. Die Kinder bleiben bis zur sechsten Klasse zusammen und lernen Grundfertigkeiten.

Ab dem 12. Lebensjahr, wenn das hierarchische Lernen von Eltern und Lehrern der Orientierung an Gleichaltrigen weicht und die Neigungen auseinandergehen, wird die Klassengemeinschaft aufgelöst. Stattdessen gibt es zwei Lernformen. Besonders in Mathematik soll das individualisierte Lernen am Computer dem je eigenen Tempo und Niveau gerecht werden. Die klassischen Fächer weichen übergreifenden Projekten, die sich Schüler je nach Interesse und Talent wählen. Damit einher geht eine neue Bindungs- und Verantwortungskultur, ähnlich wie im Collegesystem. Die Schule wird in Abteilungen, „Lernhäuser“, aufgeteilt, in denen den Schülern über die ganze Zeit ein Team aus Lehrern als Coachs zur Seite steht. Zensuren erübrigen sich, stattdessen gibt es persönliche Beurteilungen, die die Bildungsbiografie der einzelnen Schüler abbilden. Die Lernhäuser stehen in spielerischem Wettbewerb zueinander, so dass Motivation und Zusammenhalt der Gruppen gestärkt werden. Die dann auch anders als bisher an Akademien als „Vermittlungskünstler“ ausgebildeten Lehrer müssen qualitativ mehr, aber quantitativ weniger arbeiten. Sie werden künftig durch ein Casting rekrutiert und durch geeignete Praktiker verschiedener Berufsfelder ergänzt.

Wer aber soll diese Vision umsetzen? Auch dafür hat Precht mit realistischem Blick auf politische Realitäten Antworten parat. Nur die Schulen selbst könnten sich unter kompetenter Beratung von Stiftungen und Bildungsinitiativen evolutionär entwickeln, sagt er. Dafür müssten allerdings die Kultusministerien die Leinen verlängern, das sei die politische Forderung. Und er gibt den Zuhörern einen bedenkenswerten Satz mit auf den Weg: „Wer etwas verändern will, sucht Ziele. Wer etwas verhindern will, sucht Gründe“. Stürmischer Applaus und dann interessierte Fragen statt Kritik aus dem mit vielen Pädagogen besetzten Publikum lassen ahnen, dass dieser Abend inspirierend nachhallt. emma

 

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