Unzureichende Aufholprogramme, fehlende Lernstanderhebung und „Bildungsprivatisierung“

Ministerien wälzen die Verantwortung für Lernlücken auf Kinder und Lehrkräfte ab

Am 30. August hat in Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland das neue Schuljahr begonnen – nach anderthalb Jahren Pandemie inklusive Schulschließungen und Distanzunterricht. Bei vielen Kindern und Jugendlichen hat das Lernlücken und Kompetenzdefizite hinterlassen. Das von den Kultusministerien beworbene Aufholprogramm zeigt aber nicht die versprochene Wirkung: Noch nicht einmal 5% aller Schülerinnen und Schüler nutzten die „Lerncamps“ in den Sommerferien.

Der von Eltern und Bildungsforschern getragene Zusammenschluss „Schule braucht Zeit“ fordert daher eine Schulzeitverlängerung – beispielsweise in Form zweier Langschuljahre oder um ein gesamtes Schuljahr. „Für Kinder und Jugendliche waren die anderthalb Jahre Pandemie ein sehr langer Zeitraum für ihre Entwicklung. Bis zu 800 Stunden Präsenzunterricht sind wegen der Corona-Pandemie laut Deutschem Lehrerverband ausgefallen. Die 1 Mrd. Euro, die Bund und Länder bereitstellen, ergeben bei bundesweit knapp 11 Mio. Schülerinnen und Schülern aber weniger als 100 Euro pro Kind; davon kann man durchschnittlich 5 Nachhilfestunden finanzieren. „Die Milliarden Euro für das Aufholprogramm klingen nach viel Geld, doch rechnet man nach, sind das pro Kind und Tag nicht mal ein Schokoriegel.“

In Rheinland-Pfalz haben deutlich weniger Schülerinnen und Schüler diesen Sommer die sogenannte „Sommerschule“ genutzt als letzten Sommer. Kritiker der Sommerschule weisen darauf hin, dass nur 3 Stunden pro Tag einfach nicht ausreichen, um eklatante Lerndefizite, die kontinuierlich entstanden sind, zu schließen. Im Saarland nahmen nur 5.000 Schüler am Aufholprogramm in den Sommerferien teil. Das entspricht gerade mal einem Anteil vom 4% der saarländischen Schülerschaft. Wie das Aufholprogramm in beiden Bundesländern jetzt mit dem Schulbeginn weitergehen wird, ist noch völlig offen, voraussichtlich wird auf individuelle Lösungen an den Schulen verwiesen.

Das hessische Landesprogramm will Kinder und Jugendliche mit zahlreichen Angeboten bei der „Bewältigung der Corona-Krise“ unterstützen, wie auf der Website des Kultusministeriums zu lesen ist. Dafür gibt es in den kommenden zwei Schuljahren rund 150 Millionen Euro – jeweils zur Hälfte vom Land Hessen und vom Bund.

Der Blick in die Schulstatistik belegt eine ernüchternde Bilanz: Von den rund 630.000 Kindern und Jugendlichen, die eine hessische Schule besuchen, absolvierten 13.000 ein Sommerferien-Lerncamp – das sind nur 2 %. Das ist ein Ablenkungsprogramm, kein Aufholprogramm. Was mit den Lernrückständen der anderen 98% ist, darüber schweigt sich das Ministerium aus.

Einen Überblick über die entstandenen Defizite hat niemand: Statt zu analysieren, wie sich die Situation an den hessischen Schulen tatsächlich darstellt, hat Kultusminister Prof. Dr. R. Alexander Lorz Lernstanderhebungen wohl eine Absage erteilt. In den Bund-Länder-Beratungen wurden diese aber noch als wichtiger Punkt angesehen. Der Name des Programms ‚Löwenstark – der BildungsKICK‘ entpuppt sich nach genauerem Hinsehen also als Werbeslogan. Für sein Aufholprogramm sucht das Ministerium „personelle Unterstützung“ – beispielsweise auch Oberstufenschülerinnen und -schüler. Das mutet geradezu verzweifelt an.

Die bildungspolitische Verantwortung wird von allen Kultusministerien abgewälzt auf die Kinder und Jugendlichen (die in den Ferien lernen sollen) und auf die Schulen und die Lehrkräfte vor Ort (die ja am besten wüssten, was zu tun sei). Statt eines durchdachten innerschulischen Konzepts wird Bildung privatisiert: Schlimmer noch: in Hessen verlässt man sich auf außerschulische Partner wie die Unternehmensberatungsfirma Accenture, die Merck Family Foundation oder die PwC-Stiftung. Das nützt vor allem den Unternehmen, die sich als wichtige Akteure im Bildungssystem profilieren können.

Der von Eltern und Bildungsforschern getragene Zusammenschluss Schule braucht Zeit fordert daher eine Schulzeitverlängerung – beispielsweise in Form zweier Langschuljahre. In einem Interview von letzter Woche mit dem Deutschlandfunk führte Katja Oltmanns aus: „Wenn wir das nicht schaffen, dann wird die Bildungsschere weiter auseinanderdriften.“ Mehr Infos unter www.schulebrauchtzeit.de

 

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