Carl de Nys

– Musikologe aus Eupen

Carl de Nys wurde am 26. März 1917 in Eupen als ältester Sohn eines musikbegeisterten Amtsgerichtsrats und als Nachfahre vieler Generationen von Juristen aus dem Aachener Raum geboren. In die belgische Eifel gelangte die Familie, als der Anwalt Peter Joseph de Nys um 1800 die Burg Raeren erwarb. In Raeren starb auch Karl de Nys (1833–1907), der über 40 Jahre lang Trier als Oberbürgermeister regierte; er war der Großvater des Musikwissenschaftlers.

Carl de Nys kam als Deutscher und Preuße zur Welt. Erst in seinem dritten Lebensjahr wurde sein Geburtsort aufgrund des Versailler Vertrags aus dem deutschen Staatsverband gelöst und schließlich 1925 Teil Belgiens. In Eupen erlebte Carl schöne Kinder- und Jugendjahre. Gern erinnerte er sich noch im Alter an die Schönheit der Heimatlandschaft, aber ebenso an das für eine Kleinstadt rege kulturelle Leben. Seine höhere Schulbildung erhielt der Juristenspross zunächst in der örtlichen katholischen Jungenschule Collège Patronné, anschließend im Jesuitenkolleg in Verviers. De Nys studierte Philosophie in Namur, aber das Interesse des von Kirchenmusik begeisterten jungen Eupeners verlagerte sich alsbald stärker auf die Theologie. Nach theologischen Studien im Vogesenort Saint-Dié und Philologie-Semestern in Nancy wurde der 24-Jährige am 11. September 1941 in Saint-Dié zum Priester geweiht. Bei seiner ersten feierlichen Messe 1941 in der Eupener Nikolauskirche trug er ein rotes Gewand, das aus Stoffen bestand, die einst Kaiserin Maria Theresia der Stadt Eupen geschenkt hatte. Carl de Nys fühlte sich der Kultur des österreichischen Kaiserreiches, zu dem Ostbelgien im 18. Jahrhundert gehört hatte, zeitlebens besonders verbunden. Nach seiner Priesterweihe lehrte de Nys im südlothringischen Épinal Philosophie und Philologie, betrieb aber zugleich in Bibliotheken und Archiven musikwissenschaftliche Studien, deren Ergebnisse er in Aufsätzen veröffentlichte. Das musikwissenschaftliche Wissen, für das er international berühmt wurde, eignete er sich autodidaktisch an. In den Nachkriegsjahren ermunterte ihn Émile Blanchet (1886–1967), Bischof von Saint-Dié (1940–1946) und danach Rektor des Institut Catholique de Paris sowie Prediger in Notre-Dame, sich auf musikwissenschaftliche Themen zu konzentrieren und sorgte dafür, dass dies beruflich möglich wurde. Blanchet war auf ihn aufmerksam geworden, weil de Nys in Österreich unbekannte Musikmanuskripte aus dem 18. Jahrhundert aufgespürt hatte. De Nys kam nun mit Schallplattenfirmen und Rundfunk in Kontakt und erhielt eine Sendung im Kulturprogramm des französischen Rundfunks. Seine musikhistorischen Studien setzte er fort, und es gelang ihm nach wie vor, in mehreren Ländern unbekannte Komponisten-Handschriften aufzuspüren. Dabei half ihm die ungewöhnlich ausgeprägte Fähigkeit, schon aus wenigen Noten eines Musikmanuskripts die Entstehungszeit und den Komponisten sowie die Art des Musikstückes zu erkennen. De Nys war ein Bewunderer der Musik aus Renaissance und Barock und trug mit seinen Radiobeiträgen und zahlreichen Publikationen schon in den 1950er Jahren dazu bei, das Interesse eines breiteren Musikpublikums für Komponisten jener Zeit (z. B. Charpentier) zu wecken. Von den berühmten Musikschöpfern gehörten vor allem Bach, Mozart und Haydn zu den Komponisten, mit deren Leben und Werk sich Carl de Nys tiefschürfend befasste; für alle drei galt er als Experte erster Güte. Als erster Musikologe überhaupt verfasste de Nys eine Monographie zur Kirchenmusik von Mozart. Biografisch kam de Nys aufgrund seiner detaillierten Kenntnis des Lebenswegs von Mozart zum Schluss, dass dieser keineswegs ein exzentrischer Sonderling gewesen war, „sondern ein sehr ausgewogener normaler Mensch, für den alles, von seinem Glauben bis zu einem guten Menü, seine Stelle hatte“. Eine besondere Vorliebe entwickelte de Nys für den französischen Komponisten George Onslow (1784–1853), den er quasi wiederentdeckte.

Auf der Suche nach einem ruhigen Forschungsort gelangte der Musikforscher um 1960 in das mittelfranzösische 500-Seelen-Dorf Valprivas in der Auvergne. Dort gründete er 1961 zusammen mit der Pianistin Hélène Salomé das Centre culturel de Valprivas – ein Kulturzentrum, das zu einem Besuchsort von Musikwissenschaftlern aus aller Welt wurde. Etwa zur gleichen Zeit begann eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem genialen Toningenieur, Schallplattenpionier und Erfinder André Charlin (1903–1983). Als Charlin das Musiklabel CECE gründete, wurde de Nys dessen künstlerischer Direktor, der für die Auswahl und die Begleittexte der Kompositionen zuständig war. Gemeinsam produzierten sie Werke auch wenig bekannter Komponisten in damals höchster Qualität und wurden dafür mit hohen Auszeichnungen geehrt. Daneben unterrichtete de Nys Musikologie an der Universität Lyon-St. Etienne. Musikfreunden im französisch-deutschen Kulturraum wurde der Eifelbelgier bekannt durch musikjournalistische Beiträge in Zeitschriften und im Rundfunk. Bei bedeutenden Musikfestivals wirkte er als Berater oder künstlerischer Leiter mit, namhafte Orchester und Musiker zogen ihn bei Aufführungsfragen zu Rate. Als Carl de Nys im April 1996 in Valprivas starb, war sich die Welt der klassischen Musik darin einig, dass sie einen herausragenden Musikexperten des 20. Jahrhunderts verloren hatte.

Verfasser: Gregor Brand

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