Ernest J. Nesius

US-Agrarwissenschaftler – Enkel Eifler Auswanderer aus Sehlem und Quiddelbach

In der Vor-Internet-Zeit war es schwierig, wenn nicht unmöglich, die Spuren der vielen Eifler USA-Auswanderer des 19. Jahrhundert zu verfolgen. So wusste ich selbst beispielsweise zwar, dass Geschwister meiner Ururgroßeltern emigriert waren, aber was aus ihnen und ihren Nachfahren auf der anderen Seite des Atlantiks geworden war, blieb lange unbekannt. Seit einigen Jahren ist zu den schon länger bekannten Recherche-Möglichkeiten im Internet eine neue hinzugekommen: Mit Hilfe von genealogisch ausgerichteten DNA-Tests kann man – vorausgesetzt, dass sich zufälligerweise auch Verwandte in den USA testen lassen – plötzlich auf Nachfahren der Ausgewanderten stoßen. Durch ein solches genetisches Match – also gemeinsame DNA-Abschnitte – bin ich auf die mitgliederstarken amerikanischen Nesius-Familien aufmerksam geworden, Nachkommen des Auswanderer-Ehepaars Johann Joseph Nesius (1841–1926) und Maria Anna Steffgen (1843–1924). Ein Enkel dieses Paares war der 1912 geborene Agrarwissenschaftler Ernest J. Nesius.

Die Sehlemer Auswanderin Maria Anna (Mary Ann) Steffgen, eine Kusine meines Hetzerather Urgroßvaters Johann Matthias Wagener (1845–1928), hatte mit ihrem ebenfalls aus der Eifel (Quiddelbach nahe der Nürburg) stammenden Mann eine Farm von rund 65 Morgen im Bundesstaat Indiana aufgebaut und dort fast zehn Kinder aufgezogen, darunter John Nesius (1885–1979), den Vater von Ernest. Die Lebensbedingungen dieser Pioniergeneration waren äußerst hart, da das windige und von mosquitoreichen Sümpfen und Wald durchzogene Land zwischen Chicago und Indianapolis erst mühsam urbar gemacht werden musste. Der Weg des Farmersohns Ernest zur akademischen Bildung begann mit dem Landessieg in einem Schüler-Forschungswettbewerb, der ihm ein Stipendium zum Studium an der Purdue University in seinem Heimatbundesstaat einbrachte. Nach dem Bachelor-Abschluss wechselte er an die University of Kentucky in Lexington, wo er seinen Master-Abschluss machte. Die agrarwirtschaftlichen Themen, mit denen sich Nesius als Student und angehender Agrarwissenschaftler befasste, waren für ihn nicht bloß von theoretischem Interesse. US-Landwirte befanden sich wegen widriger Wetter-entwicklungen und eines enormen Preisverfalls in den 1930er Jahren teilweise in existenzieller Not, was Nesius auch bei der elterlichen Farm deutlich beobachten konnte. Unterbrochen vom Militärdienst bei der US Navy und einem längeren Arbeitsaufenthalt in Österreich erwarb Nesius an der Iowa State University 1950 den Doktortitel (Ph.D.) mit einer Studie zur Allokation von Farmressourcen bei der Nutzung von Weideland im Bluegrass-Gebiet von Kentucky. An der University of Kentucky arbeitete er danach im Bereich Farmmanagement, anschließend war er sechs Jahre lang Direktor des Cooperative Extension Service, einer seit 1914 bestehenden staatlichen Bildungseinrichtung zur Vermittlung agrarwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis und Lebenwelt der Landwirte.     

1960 wechselte Dr. Nesius zur West Virginia University, wo er Professor für Agrarwirtschaft und Dekan am College of Agriculture, Forestry, and Economics wurde. Im Lauf der folgenden Jahrzehnte hatte er weitere universitäre Leitungspositionen inne; so war er Vizepräsident des West Virginia Center for Appalachian Studies and Development. Trotz seiner intensiven Beschäftigung mit der Landwirtschaft West Virginias und Kentuckys war Nesius nicht nur inneramerikanisch orientiert. Er verfolgte die Entwicklung der Landwirtschaft weltweit aufmerksam und berichtete darüber. Unter seiner Leitung stand ein internationales agrarwirtschaftliches Entwicklungsvorhaben seiner Universität, in dessen Rahmen er in den 1960er Jahren Entwicklungsprogramme für die ostafrikanischen Staaten Kenia, Uganda und Tansania konzipierte und organisierte. 1970 verließ Professor Nesius für zwei Jahre die Universität und ging im Rahmen eines US-Hilfsprogramms als Chef-Agrarberater für zwei Jahre in die südvietnamesische Hauptstadt Saigon. Ziel der gefahrvollen Mission war es, die durch den andauernden Vietnamkrieg bedrohte und beschädigte Agrarproduktion in Südvietnam aufrechtzuerhalten und zu organisieren.

Nach seiner Rückkehr widmete er sich wieder auf gewohnt breitem Feld der amerikanischen Landwirtschaft: als Wissenschaftler mit zahlreichen Fachveröffentlichungen oder auch als Mitglied in vielen regionalen und nationalen Kommissionen, vor allem in solchen, bei denen es um die effiziente Umsetzung des wissenschaftlichen Fortschritts in die Arbeit der Farmer ging. Trotz dieser Praxisorientierung verlor er nicht den geschichtlichen und soziologischen Gesamtzusammenhang der Entwicklung auf dem Land aus dem Auge. „The Rural Society in Transition“ (Die ländliche Gesellschaft im Übergang) war nicht nur Gegenstand einer seiner längeren Abhandlungen, sondern ein Phänomen, dessen Auswirkungen und möglicher zielgerichteter Gestaltung er durchgängig nachging. Neben etlichen anderen Ehrungen erhielt Professor Nesius den Preis der American Country Life Association für herausragende Beiträge zur Landwirtschaft. Der Top-Agrarfachmann, verheiratet mit Margaret Markley und Vater von drei Kindern, starb 2004 im Alter von 92 Jahren in Morgantown, wo die West Virginia University ihren Sitz hat.

Verfasser: Gregor Brand

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