Ewald Fettweis

Ethnomathematiker und Mathematikpädagoge aus Eupen

Der Ausdruck „Digitalisierung“ gehört zu den Leitbegriffen unserer Zeit und signalisiert Fortschrittlichkeit. In auffälligem Gegensatz dazu steht seine Wortherkunft: Der Begriff leitet sich vom lateinischen Wort für „Finger (digitus) ab und verweist damit auf die Ursprünge des Rechnens mit der Hand. Solchen Anfängen der Mathematik und der unterschiedlichen Ausprägung mathematischen Denkens in den verschiedenen Kulturen und Ethnien ging der 1881 in Eupen geborene Mathematiker Ewald Fettweis nach. Jahrzehnte, bevor sich die Ethnomathematik gegen Ende des 20. Jahrhunderts international als wissenschaftliche Disziplin etablierte, wurde er zum Vordenker auf diesem Feld, wie u. a. Andrea Verdugo Rohrer in ihrer Dissertation („Ethnomathematics — New Approaches to its Theory and Application“, 2010) hervorhob.

Ewald Fettweis war ein Sohn des Färbereibesitzers Alphons Leo Fettweis (1841–1922) und dessen Ehefrau Anna Warlimont (1852–1941). Von den vielen geistig herausragenden Mitgliedern der Fettweis-Familie sei hier nur auf seinen Neffen, den Nachrichtentechnik-Pionier Alfred Fettweis (1926–2015), hingewiesen. Ewald Fettweis heiratete die in Portugal geborene Aninhas Leuschner Fernandes. Von ihren beiden Söhnen machte sich Günter B. Fettweis (geb. 1924) als Professor für Bergbau einen Namen, der Mediziner Ewald Fettweis jr. (geb. 1926) als innovativer Orthopäde.

Der auch anthropologisch interessierte Ewald Fettweis studierte Mathematik in Münster und Bonn. In Düsseldorf unterrichtete er, unterbrochen durch Kriegsteilnahme bei den Nachrichtentruppen, als Studienrat von 1911 bis 1920 am Städtischen Höheren Lehrerinnenbildungsseminar, dann als Oberstudienrat an der Auguste-Viktoria-Schule (heute: Goethe-Gymnasium). 1926 wurde Fettweis Dozent an der neuen Pädagogischen Akademie in Bonn, 1927 promovierte er mit einer grundlegenden Abhandlung über „Das Rechnen der Naturvölker“, 1928 wurde er Fachberater am Provinzialschulkollegium Koblenz. Als Mathematikdidaktiker veröffentlichte Fettweis 1929 seine „Methodik des Rechenunterrichtes“ für Volksschulen. Das Buch galt jahrzehntelang als Standardwerk und wurde mehrfach neu aufgelegt. 1932 zog es Fettweis zurück an den Niederrhein. In Düsseldorf wurde er Vize-Direktor der Fürstenwall-Oberrealschule (heute: Geschwister-Scholl-Gymnasium); über deren schwere Beschädigung durch Bombenangriffe berichtete er in seiner letzten Veröffentlichung (1962). Ab 1945 lehrte er als Professor an der Pädagogischen Akademie in Aachen, wo er bis 1954 Vorlesungen zur Mathematikdidaktik und Mathematikgeschichte hielt. Wissenschaftshistorisch bedeutsam sind seine Seminare zur Ethnomathematik, worauf der Ethnologe Olindo Falsirol 1959 hinwies; dies war die erstmalige gedruckte Verwendung des Begriffs Ethnomathematik („etnomatematica“ in Falsirols italienischem Originalartikel) überhaupt.

Die Beschäftigung mit ethnomathematischen Fragen hatte bei Fettweis nach dem 1. Weltkrieg eingesetzt. Ein frühes Zeugnis dafür bildet sein Artikel „Eine Mahnung der Völkerkunde bezüglich der modernen Rechenmethodik“ (1921). Zwei Jahre später folgte „Wie man einstens rechnete“, wo er erneut mathematikgeschichtliche mit völkerkundlichen Forschungen kombinierte. Fettweis betrieb selbst keine Feldforschung, zeichnete sich aber durch umfassende Kenntnis der ethnologischen Fachliteratur aus. Dabei ist zu berücksichtigen, dass er diese Studien neben seinem Lehrerberuf vornahm. Auch seine Dissertation erstellte er unabhängig und ohne Betreuung durch einen Doktorvater.

Kennzeichnend für Fettweis war die vorurteilsfreie Betrachtung der geistigen Schöpfungen der sogenannten Naturvölker. Im Gegensatz zum damals stark vorherrschenden westlichen Überlegenheitsgefühl kritisierte er die „mitleidige Verachtung“ des „von Europas Bildung übertünchten Weißen“ und hielt sie für sachlich unangebracht. Auch während der NS-Diktatur plädierte Fettweis dafür, die mathematischen Entwicklungswege unterschiedlicher Kulturen ohne Rassendünkel zu würdigen. Er war der Überzeugung, dass der unterschiedliche Entwicklungsgrad mathematischer Kenntnisse nicht auf unterschiedlicher Begabung der jeweiligen Völker beruhte, sondern auf differierenden Stufen der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung. Fettweis stellte 1935 die damals provozierende These auf, „dass, wenn die kulturellen Bedürfnisse wachsen, die Rechenkunst ganz von selbst mitwächst, gleichgültig um welche Rasse es sich handelt“. Über seine Haltung während der NS-Zeit schrieb er nach dem Weltkrieg, er sei kein Mitglied der NSDAP gewesen und habe zudem „die Nazi-Ideologie in wissenschaftlichen Zeitschriften unter persönlicher Gefahr bekämpft“. Einen Eindruck von der anhaltenden Breite seines Forschungsinteresses liefern die Titel seiner späteren Beiträge. So schrieb er über „Streitfragen aus der Geschichte der Arithmetik in ethnologischer und psychologischer Beleuchtung“ (1953), „Geometrische Erkenntnisse aus der griechischen und vorgriechisch-orientalischen Wissenschaft in der praktischen Raumkunde bei Naturvölkern“ (1954) oder „Die Mathematik des Megalithkulturkreises und ihre Entwicklung“ (1956). Der „wissenschaftliche Grenzgänger“ Fettweis (so C. J. Scriba) starb am 24. Juli 1967, einen Tag nach seinem 86. Geburtstag, in Aachen. 

Verfasser: Gregor Brand

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