Louis Wirth – Amerikanischer Soziologe

Sohn einer Jüdin aus Butzweiler

Louis Wirth gehört zu den großen amerikanischen Soziologen des 20. Jahrhunderts. Bei insgesamt enormer Vielseitigkeit wurde er vor allem durch seine grundlegenden Analysen zur Urbanisierung bekannt. Es gehört zur Ironie der Wissenschaftsgeschichte, dass dieser eminente Theoretiker der Stadt seine Wurzeln in der dörflichen Welt von Eifel und Hunsrück hatte. Geboren 1897 im Hunsrückdorf Gemünden, wo die jüdische Familie seines Vaters Joseph Wirth schon seit Generationen ansässig war, entstammte Louis Wirth durch seine in Butzweiler geborene Mutter Rosalie Lorig (1868-1948) dem Landjudentum der Südeifel. Die väterlichen Vorfahren von Rosalie Lorig, einer Tochter des Butzweiler Viehhändlers Abraham Lorig, sind schon im 18. Jahrhundert in Butzweiler und Umgebung nachweisbar. Nicht zutreffend ist die – z. B. in einem Buch von W. Vortkamp aus dem Jahr 2003 – geäußerte Annahme, Lorigs Mutter stamme aus einer Rabbiner- bzw. Gelehrtenfamilie.

301_wirth_34_16Die Eifler Lorig-Verwandten spielten für den Werdegang von Louis Wirth eine entscheidende Rolle. 1911 war es sein in die USA ausgewanderter Onkel Emanuel Lorig gewesen, der bei einem Heimataufenthalt die Familie seiner Schwester davon überzeugt hatte, dass ihren erstgeborenen Sohn Louis eine chancenreichere Zukunft in den USA erwarten würde. Zusammen mit seiner Schwester Flora emigrierte Louis daraufhin nach Nebraska, wo Onkel Emanuel als Kaufmann lebte. Während der dreißiger Jahre gelang es Louis Wirth, seine Familie rechtzeitig zur Auswanderung aus Deutschland zu bewegen; seine Eltern starben in Chicago.

In den USA besuchte Louis Wirth die High School in Omaha, ehe er dank eines Begabtenstipendiums auf die Universität Chicago wechselte. Diese Spitzenhochschule blieb von da an im Zentrum seines Lebens, dort vollzogen sich seine akademischen Karriereschritte: Bachelor 1919, Master 1925, Promotion 1926. Nach Aufenthalten in Arizona und Deutschland wurde Wirth 1931 in Chicago Assistant Professor, ab 1940 war er dort ordentlicher Professor.

1923 heiratete Louis Wirth die aus einer Baptistenfamilie Kentuckys stammende Mary Lilly Bolton (1899-1976), mit der er bereits seit College-Zeiten befreundet war. Aus der Ehe gingen die Töchter Elizabeth Wirth Marvick (1925-2005) und Alice Wirth Gray (1934-2008) hervor. Elizabeth Wirth trat als Historikerin und Politikwissenschaftlerin selbst mit bemerkenswerten Publikationen hervor, in denen sie das Handeln historischer Akteure unter psychoanalytischen Aspekten untersuchte. Ihr sind zudem wichtige Informationen über ihren Vater Louis zu verdanken. Louis Wirth hatte das ausgeprägte Bewusstsein, als Jude Angehöriger einer Minderheit zu sein. Dieses prägende Gefühl beruhte nicht nur auf allgemeiner Statistik, sondern entsprach auch seinen persönlichen Erfahrungen. Nicht nur in seinen Jugendjahren, auch später noch als Teilnehmer auf Soziologenkongressen waren christliche Zeitgenossen weit in der Überzahl. In religiöser Hinsicht löste sich Wirth allerdings merklich von der jüdischen Tradition; weder für ihn noch für seine Frau war beispielsweise ihre unterschiedliche Religionszugehörigkeit bei der Heirat ein Problem.

Wirths soziologische Forschungsinteressen verblüffen durch ihre Aktualität und theoretische Fundierung. Tiefgründig analysierte er die soziokulturellen Auswirkungen der zunehmenden Verstädterung. Der Titel seiner 1938 erschienenen Abhandlung „Urbanism as a Way of Life“ (Die Stadt als Lebensform) verdeutlicht diesen Blickwinkel. Stärker als viele anderen war er von der Bedeutung der Gruppenzugehörigkeit für die Identität der Menschen überzeugt. Das führte Wirth zu der für ihn fundamentalen Frage, wie unterschiedliche Gruppen friedlich und gedeihlich im Konsens zusammenleben können – eine Frage, die heute nicht weniger wichtig ist als im damals von scharfen Rassengegensätzen (Segregation) geprägten Amerika. Große Aufmerksamkeit wendete Wirth den Phänomenen Massenkommunikation und Wissens- und Informationsverbreitung zu. Auch seine Ausführungen dazu klingen heute im Zeitalter von Internet und sozialen Medien keineswegs veraltet. Eine 2013 veröffentlichte Abhandlung zum Thema „Facebook as a Way of Life: Louis Wirth in the Social Network“ hebt diese Aktualität überzeugend hervor. Louis Wirth hatte Verständnis dafür, wenn sich Intellektuelle um ihres inneren Friedens wegen aus der Öffentlichkeit heraushielten, aber plädierte doch für ein Verlassen des Elfenbeinturms. Er selbst tat dies durch zahlreiche Radiosendungen, aber auch durch vielfältige andere Aktivitäten. Wirth war Präsident der American Sociological Society und zudem Präsident der Internationalen Soziologen-Vereinigung. Auf regionaler Ebene wirkte er an führenden Stelle in Planungsbehörden mit, außerdem war er Präsident des American Council on Race Relations und Herausgeber soziologischer Fachzeitschriften.

Als der international renommierte Soziologe 1952 in Buffalo überraschend einem Herzinfarkt erlag, traf der Tod den erst 54-Jährigen auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Louis Wirth hatte noch anspruchsvolle, wissenschaftliche Ziele und es besteht kaum Zweifel, dass er sie erreicht hätte.

Verfasser: Gregor Brand

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