Maria Verbeek

Mathematikerin und Bäuerin aus Wittlich

Im Jahr 2017 sind es 100 Jahre her, seit erstmals eine Wittlicherin promovierte: Maria Verbeek mit ihrer mathematischen Doktorarbeit „Über spezielle rekurrente Folgen und ihre Bedeutung für die Theorie der linearen Mittelbildungen und Kettenbrüche“. Dieses Ereignis markiert nicht nur unter lokalem Wittlicher Aspekt eine Pionierleistung. Erst ein Jahrzehnt zuvor war das Universitätsstudium für Frauen in Preußen allgemein zugelassen worden. Dementsprechend war auch die Zahl von Frauen, die eine Promotion vorweisen konnten, sehr klein. Kurzum: Frauen, die im Kaiserreich ihren Doktortitel erwarben, konnten sich mit Recht als Pionierinnen  im Bereich Bildung und Wissenschaft betrachten. Die Entdeckung, dass zu diesem geistig elitären Kreis eine Wittlicherin gehörte, ist Franz-Josef Schmit zu verdanken, der zur Wittlicher Schulgeschichte und speziell zur Geschichte der höheren Mädchenbildung ausgiebig recherchierte. 

Die 1890 geborene Maria Verbeek, jüngste Tochter des Königlichen Seminardirektors Dr. Heinrich Verbeek (1831–1905) und dessen Ehefrau Anna Weinreis (1847–1928), kam aus einer sehr bildungsbewussten Familie. Vater Verbeek gehörte als jahrzehntelanger Direktor des 1876 in Wittlich gegründeten Lehrerseminars zu den prägenden Pädagogik-Persönlichkeiten der Eifel in wilhelminischer Zeit. Maria Verbeek besuchte die Wittlicher Volksschule und verlebte in der Lieserstadt glückliche Kindertage. Nach der Pensionierung des hochgeachteten Schulrats Verbeek zog die Familie 1903 nach Bonn,  wo Tochter Maria nun auf die von Emilie Heyermann – einer Vorkämpferin der Frauenbildung – geführte private höhere Töchterschule mit Lehrerinnenseminar ging.  Siebzehnjährig setzte Maria anschließend die Ausbildung am Königlichen Lehrerinnenseminar in Trier fort, wo sie im Januar 1909 die Prüfung für den Unterricht an Volkschulen, mittleren und höheren Schulen bestand. Mit diesem Erfolg war sie noch nicht zufrieden – sie wollte Abitur machen. Nach zweieinhalbjährigem Vorbereitungskurs erreichte sie dieses Ziel: Am 14. März 1912 erhielt Maria Verbeek am Realgymnasium in Bonn das Zeugnis der Reife. Die Wittlicherin immatrikulierte sich an der Universität Bonn mit dem Studienziel Höheres Lehramt in den Fächern Mathematik, Physik und Chemie. Ihre mathematische Begabung fiel insbesondere zwei jüdischen Mathematikprofessoren auf: Franz London (1863–1917) und Issai Schur (1875–1941), von dem Maria Verbeek die Anregung zu ihrer Dissertation erhielt. Dass Schur ihr diese Arbeit zutraute und als Doktorandin annahm, kann als eine Ehre ganz besonderer Art angesehen werden, denn Issai Schur gilt als einer der großen Mathematiker des 20. Jahrhunderts; die Liste seiner Doktoranden weist etliche herausragende Mathematiker auf. Verbeeks sehr gut bewertete Dissertation hätte Ausgangspunkt für eine weitere akademische Laufbahn sein können, aber wie die meisten Doktorandinnen damals wählte sie den Beruf der Lehrerin. In Düren unterrichtete Dr. Verbeek am Lyzeum, aber glücklich war sie an dieser Mädchenschule nicht; manche  Kolleginnen taten sich mit der Vorstellung einer promovierten Mathematikerin schwer.

Eine völlig neue Wendung nahm ihr Leben Anfang der zwanziger Jahre. Während des Studiums hatte sie den Westeifler Bauernsohn Matthias Lehnen kennengelernt, der 1921 ebenfalls in Mathematik promovierte. Noch im gleichen Jahre heirateten die beiden, und das jungvermählte Mathematiker-Ehepaar ließ sich in Heilhausen, dem Heimatort von Matthias Lehnen, nieder, um dort nach dem Kriegstod zweier älterer Lehnen-Brüder den elterlichen Bauernhof zu bewirtschaften. „Mutter erschien ein schönes Familienleben erstrebenswerter als eine berufliche Karriere“, schrieb ihre älteste Tochter Anni Gansen in einer biographischen Aufzeichnung, die eine wertvolle Quelle zur Heilhausener Zeit von Maria Verbeek ist. Für die Wittlicher Akademikertochter, die bislang mit der bäuerlichen Lebenswelt der Eifel keine nähere Berührung gehabt hatte, war das ungewohnte traditionsgeprägte Leben auf dem Bauernhof alles andere als einfach. Vier Töchter wurden dem Ehepaar Lehnen in Heilhausen geschenkt. Dies bedeutete zwar, dass die Eltern keine Söhne als Soldaten in den Weltkrieg schicken mussten, konnte aber nicht verhindern, dass die Schrecken des Krieges sie auch in ihrem Westeifeldorf heimsuchten. Beim Einmarsch der Amerikaner wurde das Lehnen-Haus beschossen und brannte völlig ab. Auch wenn die Familie mit dem Leben davonkam, so war nicht zuletzt der Verlust aller persönlichen Erinnerungstücke (Briefe, Bilder etc.) für Maria Lehnen tief deprimierend. Die materiellen Verluste durch die Zerstörung des Hauses ließen die Nachkriegsjahre zu einem ungemein mühseligen Neubeginn werden. Im Frühjahr 1955 erfuhr Maria Lehnen, dass sie Leukämie hatte; im August 1956 erlag sie in Heilhausen dieser Krankheit. Die mathematische Familientradition des Paares Verbeek-Lehnen führt der Enkel Dr. Winfried Hochstättler, Professor für Diskrete Mathematik und Optimierung in Hagen, fort. Dass heute etwa die Hälfte aller deutschen Mathematikstudierenden Frauen sind, erschien zu Studienzeiten seiner Großmutter nahezu unvorstellbar.

Verfasser: Gregor Brand

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