„Abitur“ und „Schieflage unseres Bildungssystems“

Als Ausweis der Effizienz des deutschen Schulsystems werden alljährlich die Steigerungen der Abiturientenquoten, also der Anteil der Hochschulzugangsberechtigten an einem Geburtsjahrgang präsentiert. Und die haben es in der Tat in sich: Von gerade einmal 5 % im Jahre 1950 auf 37,2 % im Jahre 2000 sind sie – laut Statistischem Bundesamt – bis 2015 auf 53 % angewachsen, Tendenz steigend. Damit aber nicht genug: Auch die Gesamtdurchschnittsnoten haben sich verbessert, in vielen Bundesländern liegen sie mittlerweile bei 2,1. Viele Schüler machen ihr „Abi“ mit der Traumnote 1,0 , eine Zwei ist gängig, eine Drei gibt es kaum noch.

Was ist passiert? Sind unsere jungen Leute alle intelligenter geworden? Liegt es vielleicht an der besseren Ernährung? Haben sich die Lehrmethoden so stark verbessert?

Das Gymnasium ist längst zur Hauptschule der Nation geworden, frei nach dem abgewandelten Zuckmayerschen Motto: Der Mensch beginnt erst beim Abitur! Aber allmählich, ganz allmählich stellt sich ein gesellschaftlicher Katzenjammer ein: Die Universitäten klagen darüber, dass die Studienanfänger nicht über die nötigen Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen, ein Studium aufzunehmen, die Zahl der Studienabbrecher nimmt besorgniserregende Ausmaße an, die Wirtschaft und das Handwerk klagen über Mangel an Facharbeitern bzw. qualifizierten Auszubildenden. Und dennoch nimmt die Geringschätzung der nicht-akademischen Bildung zu, das duale Ausbildungssystem, einst ein Aushängeschild des deutschen Schul- und Bildungswesens hat längst seinen Glanz verloren. Es ist eine gefährliche Schieflage entstanden, die – wie der langjährige Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus es ausdrückt – die Bildungsnation Deutschland „an die Wand fährt“.

Verantwortlich für diese Misere sind in erster Linie zwei Faktoren: Da ist zum Einen die Bildungspolitik der 16 Bundesländer, die um das Goldene Kalb der Akademisierung herumtanzen, angeführt von völlig fachfremden Ministern, die nie in ihrem Leben vor einer Klasse gestanden haben, dafür aber besonders juristisch, ein wenig sozialwissenschaftlich und in erster Linie parteipolitisch geschult sind. Unter den Schlagworten Gerechtigkeit und Gleichheit wird Bildungspolitik mit Sozialpolitik verwechselt, die Abiturientenquote gilt ihr als Ausweis eines erfolgreichen Tuns, mit dem man sich vor dem Wahlvolk meint brüsten zu können. Zum Anderen ist es die unselige Rolle der sog. Erziehungswissenschaftler, die Lehrer und Eltern völlig verunsichert und schulische Wolkenkuckucksheime errichtet haben, in denen in völliger Verkennung der gesellschaftlichen Realitäten Spaß und Teamfähigkeit, vor der dringend notwendigen Förderung von Leisungsbereitschaft und dem damit einhergehenden Erwerb von Kenntnissen und Fachwissen hinten angestellt werden.

Wohl gemerkt: Diese Entwicklungen betreffen nicht nur das Gymnasium, sondern alle sonst (noch) bestehenden Schularten im sog. Sekundarbereich und vor allem die Grundschulen. Der Hauptaugenmerk liegt nicht mehr auf dem Kerngeschäft von Schule, der Vermittlung von Wissen. Im Vordergrund stehen so unscharfe Begriffe aus dem pädagogischen Fachchinesisch wie „Einsichten, zielerreichendes Lernen und altersgemäßer Leistungszuwachs“ nach Möglichkeit einhergehend mit der Abschaffung von Zeugnisnoten und somit einem stressfreien Durchlaufen der jeweiligen Jahrgangsstufen, bis hin zum Abitur. Auf diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass zwar auf der einen Seite die Zahl der Studienberechtigten immer mehr zunimmt, andererseits aber auch die Zahl der Schüler, die die Schule ohne einen qualifizierten Abschluss und sogar die Zahl der funktionalen wie strukturellen Analphabeten beängstigende Ausmaße angenommen hat. Wie man aber auf dieser Grundlage den Herausforderungen der vielzitierten Digitalisierung unserer Zukunft gerecht werden will, scheint mir ein schier unlösbares Rätsel.

Horst Becker, Arzfeld

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