Leserbrief: Die Corona-Krise und das kumulative Versagen

Viele sagen, nach Corona wird alles anders. Wir brauchen einen digitalen Umbruch, wir brauchen eine Jahrhundertreform und weitere sprechen von einer notwendigen Revolution. Ja, das ist alles richtig. Aber schauen wir zunächst einmal auf das JETZT. Wo stehen wir? Wie bewältigen wir die Krise? Wer trägt Verantwortung? Lernen wir aus der 1. Welle? Es ist für uns Bürger einfach auf die politisch Verantwortlichen in Bund, Länder und Kommunen – egal welcher Partei sie angehören – draufzuschlagen und alles abzuladen. Da schließe ich Teile unserer Medienlandschaft, besonders die Talkshows und Boulevardzeitungen mit ein. Kritik ist notwendig, aber jetzt in Wahlkampfzeiten ist alles anders. Warum üben politisch Verantwortliche besonders aus SPD und FDP öffentlich massive Kritik an Beschlüssen und Maßnahmen, die sie selbst in Bund und Länder mitberaten, mitentschieden und mitgetragen haben?

Wir müssen verstehen, dass bisher in der Corona-Krise ein kumulatives Versagen stattgefunden hat. Jeder trägt Verantwortung, von der Bundesregierung bis zu den Landesregierungen, Parlamente in Bund und Länder, Kommunen, Betreiber von Alten- und Pflegeeinrichtungen, Management in den Krankenhäusern, alle Parteien, Verbände, Unternehmen, jeder Einzelne z.B. bei Feierlichkeiten und Zusammenkünften im Freundes- und Familienkreis etc. Wenn jeder in seinem Bereich das tut, was notwendig ist und kreativ, pragmatisch, tatkräftig zupacken würde und sich nicht hinter einem vermeintlichen Versagen der politisch Verantwortlichen verstecken würde, wären wir heute in der Pandemiebekämpfung weiter.

In der ersten Welle waren sich Bund und Länder einig über die Einschätzung der Pandemie und über die notwendigen Maßnahmen. Diese Einigkeit bröckelte im Laufe der Sommermonate und fand ihren vorläufigen Höhepunkt in der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Bund im September 2020, als über den Lockdown light gegen den Einwand der Bundeskanzlerin entschieden wurde. Wie wir heute wissen, war das der entscheidende Fehler, den viele Ministerpräsidenten jetzt auch öffentlich bereuen. Dieser Beschluss war das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, weil nach dem Infektionsschutzgesetz und aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland die Bundesländer umfangreiche Befugnisse und Eigenständigkeiten haben. Die folgenden Ministerpräsidentenkonferenzen mit dem Bund liefen nach dem gleichen Schema ab. Die Ergebnisse waren teilweise der Bevölkerung schwer zu vermitteln. Der Föderalismus und die besonderen Befugnisse der Länder machen das Handeln in der Krise schwierig, viele Köche verderben den Brei. Eine Ministerpräsidentenkonferenz mit der Bundesregierung, d.h. 17 Verfassungsorgane mit sechs unterschiedlichen Parteien (SPD, CDU, CSU, LINKE, FDP, GRÜNE) müssen sich auf einen Beschluss einigen. Die Ergebnisse sind so wie sie sind. Die Bundeskanzlerin mit einer Stimme kann nur noch die Rolle einer Moderatorin einnehmen. Ein Basta, so wie zu Schröders Zeiten gibt es nicht.

Dann kam im Januar überraschend der Fragenkatalog der SPD-Ministerpräsidenten und des SPD-Vizekanzlers Scholz über die Beschaffung der Impfstoffe. Überraschend, weil über das Thema in den verschiedenen Gremien in Bund und Länder seit Frühsommer beraten, informiert und entschieden wurde und auch bekannt war, dass am Anfang der Impfstoff knapp sein würde. Alles ist in Dokumenten des Bundestages und der Bundesregierung nachzulesen. Da stellt man sich die Frage, warum kam dieser Fragenkatalog just zu dem Zeitpunkt auf den Tisch, als die schon im November bekannte Impfstoffknappheit (Beschluss GMK vom 6.11.2020) Realität wurde? Dieser Tag im Januar war der Beginn des Wahlkampfes auf Kosten der Pandemiebewältigung. Bis heute beschäftigt man sich mehr mit „verschütteter Milch“ und Kritik als mit Maßnahmen, die Pandemie einzudämmen.

Ein gutes, aber auch folgenschweres Beispiel für nicht durchgeführte Maßnahmen ist SORMAS, eine Software für die Kontaktnachverfolgung der Gesundheitsämter. Im Sommer 2020 wurde von den Ministerpräsidenten die kurzfristige Einführung beschlossen, immer wieder verschoben und dann auf Ende Januar 2021 terminiert. Bis heute ist diese Software noch nicht annähernd flächendeckend eingesetzt. Von 375 Gesundheitsämter benutzen nur 114 die Software. Rheinland-Pfalz hat noch nicht mal begonnen, obwohl sie die Vereinbarung mitbeschlossen hat. Was soll man dazu sagen? Da hört man keine Kritik der Bundesländer!

Das Finger-Pointing und die Kritik geht weiter. Es werden Un- und Halbwahrheiten von politisch Verantwortlichen und Medien in die Welt gesetzt. Wenn man Zeit hat, kann man dies mithilfe von offiziellen Dokumenten und Sach- und Menschenverstand widerlegen. Ein Beispiel für das Ping-Pong Spiel zwischen Bund und Länder ist jetzt die Beschaffung der Schnell- und Selbsttests. Wenn man sich den Beschluss der MPK mit dem Bund vom 3. März 2021 ansieht, ist ganz klar ersichtlich, das der Bundesgesundheitsminister nicht für die Beschaffung der Schnell- und Selbsttests verantwortlich ist. Es wird ausgeführt, dass „Tests in großen Mengen“ verfügbar sind und es wird Bezug auf die Nationale Teststrategie bezogen, die in § 6 Abs. 1 u.a regelt, dass die zuständigen Stellen des öffentlichen Gesundheitsdienstes für die Leistungserbringung zuständig sind – also die Bundesländer.

Wenn jetzt von SPD-MinisterpräsidentenInnen / Regierende Bürgermeister am Wochenende behauptet wird, dass nicht genügend Tests vorhanden sind und kritisieren, dass Aldi die Tests verramscht, verweise ich auf folgende öffentliche Erklärungen / Interviews von Sonntag in ARD und Montag im Morgenmagazin des ZDF. Dort haben der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindeverbunds, Gerd Landsberg, die Vorsitzende der Bundesvereinigung Deutscher Apotheken, Fr. Overwiening und Dr. Federle, Tübingen übereinstimmend erklärt, dass Schnell- und Selbsttests in ausreichender Menge vorhanden sind. Das ist deutlich! Nicht mehr und nicht weniger hat Jens Spahn gesagt. Bayern hat schon 100 Mio gekauft. Frau Dreyer kritisiert weiterhin den Bund, hat aber schon einige Millionen Tests beschafft. Auch der Beginn der Tests am 8.3. haben Länder kritisiert, obwohl viele diesen Termin trotzdem pünktlich geschafft haben.

Die Entscheidung der MPK Konferenz mit dem Bund über die Bildung einer Taskforce Testlogistik mit insgesamt 22 Mitglieder zeigt, dass Mehrheitsentscheidungen in einem so großem Gremium (16+1) auf Kosten der Qualität gehen. Dass mit dieser Taskforce geht nicht gut und hinterher streiten sich wieder Bund und Länder. Deutschland – der Weltmeister in der Logistik! Die Aufgaben dieser Taskforce könnten unsere heimischen Logistikunternehmen wie zB. Gräfen, Ludwig & Co. schneller und sicherer erledigen. Von der Feststellung der Bedarfe in Zusammenarbeit mit den einzelnen Ländern über das Abrufen der Tests beim Hersteller bis zur just-in-time Lieferung. Ohne den Bund, nur drei Beteiligte im Prozeß – das jeweilige Bundesland, das Logistikunternehmen und die Hersteller. Einfacher geht‘s nicht! Gräfen, Ludwig & Co. haben das gelernt und führen weit komplexere Logistikprojekte für Handel und Industrie durch.

Wir wünschen uns, dass alle Parteien jetzt einen Gang runter schalten in den gegenseitigen Schuldzuweisungen und konstruktiv in den Regierungen in Bund und Länder und den Parlamenten zusammenarbeiten, um diese schwierige Zeit zu meistern. Alles andere verstehen die Bürger nicht. Dafür, liebe Politiker, haben wir Sie gewählt. Soweit der Blick auf die politisch Verantwortlichen und auch die Medien.

Wie sieht es denn mit der Verantwortung anderer Beteiligter aus?

Ein Paradebeispiel für mich sind die Alten- und Pflegeheime. Im Oktober 2020 wurden die Schnelltests zugelassen und waren verfügbar. Der CDU-Gesundheitsminister Laumann in NRW hat dann dafür gesorgt, dass (a) Schnelltests in ausreichender Menge zur Verfügung standen, (b) pro 100 Bewohner ein Personalkostenzuschuss von 30.000 EUR gezahlt wurde und (c) Verträge mit DRK, Johanniter, Malteser etc. abgeschlossen wurden, die den Einrichtungen ermöglichten, kostenfrei Personal zum Testen anzufordern. Andere Bundesländer sind ähnlich verfahren. Das traurige Ergebnis in den Einrichtungen zeigt aber, dass der Großteil der Heime diese Tests für Mitarbeiter und Besucher nicht durchgeführt haben. Ja, es ist Arbeit und bedarf Kreativität, Tatkraft und Pragmatismus. Wo bleibt die Verantwortung der Heimbetreiber? Keiner hinterfragt dies? Auch die Medienlandschaft tut das nicht.

Es soll auch schon vorgekommen sein, dass aus Gründen der Reputation Infektionen in diesen Einrichtungen nicht zeitnah gemeldet wurden. Bis heute wird in jeder Talkshow und Boulevardzeitungen kritisiert und sich aufgeregt, dass die Bundesregierung die Alten- und Pflegeeinrichtungen nicht schützt. Das Beispiel von Laumann wurde nie in den Medien und Talkshows erwähnt. Im Januar hat Laumann das dann bei Markus Lanz erzählt und ich hatte den Eindruck, dass das weder den anderen Beteiligten noch den Moderator interessiert hat. Sogar Politiker von SPD, Linke und FDP üben weiterhin wider besseres Wissen massive Kritik. Ist diesen Politiker die Existenz der Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums und den Empfehlungen des RKI zum Schutz der Alten- und Pflegeeinrichtungen nicht bekannt? Warum ist das jeweilige Bundesland bzw. die Gesundheitsbehörde nicht eingeschritten? Wenn gesagt wird, es wären keine Schnelltests verfügbar gewesen, da verweise ich auf Dr. Federle aus Tübingen, die als Privatperson Tests in Millionenhöhe schon im Frühsommer 2020 kaufen konnte.

Ein weiteres Beispiel, zusätzlich zur Kritik Verantwortung zu übernehmen, kommt aus dem Bereich der Verbände. Die Demonstrationen der DEHOGA wären noch wirksamer, wenn der Verband in seinen Mitgliedsfirmen (Hotels, Restaurants) die Voraussetzung für die Benutzung der LUCA – App schaffen würde, ohne auf „die“ Politik zu warten. Das hätte man schon vor Monaten tun können. Die Anbindung an die Gesundheitsämter wird dann mehr oder weniger automatisch erfolgen. Das Gleiche gilt für den Einzelhandelsverband und Verbände in Handwerk und Industrie. Auch alle Unternehmen sollten jetzt unbürokratisch das Testen in ihren Betrieben durchführen. Großunternehmen sollten mit ihren Betriebsärzten testen und später auch Impfen. Mit dem Warten auf die Kostenzusage des Bundes schaden sie sich nur selbst, weil die Kosten für einen erkrankten Mitarbeiter den Unternehmen mehr kostet als die paar Euro für einen Test. Ich könnte noch viele andere Beispiele für das kumulative Versagen aufführen. Warum immer auf die Politik warten – proaktiv Verantwortung übernehmen, das ist gefragt. Technisch gesprochen, Deutschland ist ein Getriebe mit vielen großen und kleinen Zahnräder. Wenn ein Zahnrad ausfällt, funktioniert das Getriebe nicht mehr. Deshalb brauchen wir jeden Einzelnen. Und es gibt auch positive Beispiele von kleinen und großen Zahnräder wie die oben genannte Frau Dr. Federle, der OB von Rostock, der Landrat von Böblingen und viele andere mehr.

Die Luca-App, die die Corona-WarnApp hervorragend ergänzt, ist auch ein gutes Beispiel für Eigeninitiative. Der pünktliche Start der Schnelltests im Vulkaneifelkreis durch die Coronaambulanz HVZ Schnieder, Rosen-Apotheke, Dr. Bogs, Dr. Neiss-Kessel, Fr. Holz und das DRK ist ein positives Beispiel. In der Zeit, wo Politiker von SPD und FDP über Zuständigkeiten diskutiert haben und Malu Dreyer den Bund wegen der Beschaffung der Tests kritisiert hat, waren die MitarbeiterInnen dieser Einrichtungen pro-aktiv, kreativ, pragmatisch und haben gehandelt, sie haben Verantwortung übernommen! Und sie haben den Start 8.März geschafft – Danke und Glückwunsch! Ich wünsche mir, dass diese Eigeninitiativen unbürokratisch gefördert und unterstützt werden.

Robert Oster, Daun

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