Sühne für den Holocaust?

Was ist aus den Schergen des Naziregimes geworden, den Monstern der Führungsspitze, den zigtausenden Tätern und Helfershelfern in den Konzentrationslagern, in Gestapo, SS, SA und Polizei, in der Justiz und anderen Behörden? Einer von ihnen – der 94jährige ehemalige SS-Wachmann Reinhold Hanning wurde vom Landgericht Detmold – mehr als 70 Jahre nach seinem engagierten Dienst im KZ Auschwitz – wegen Beihilfe zum Mord in 170tausend Fällen zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Es bleibt ein bitterer Beigeschmack: Hanning, ein kleines Rädchen im Mordapparat, ist einer der wenigen, die vor Gericht gestellt wurden, obwohl die deutsche Justiz Jahrzehnte lang Zeit hatte, sie alle zu suchen und zu finden, die kleinen und großen Nazis. Sie wollten sie nicht finden, weil die ganze Nation ihrer Schuld nicht ins Gesicht sehen wollte, und weil die Justiz selbst von alten Nazis durchsetzt war. – Die Alliierten ließen uns gewähren, denn sie brauchten die braunen Funktionäre für den „Kalten Krieg.“

In den Nürnberger Prozessen wurde nur eine Handvoll der größten Monster verurteilt so weit sie sich nicht schon durch Selbstmord der Strafe entzogen hatten, aber vielen hochrangigen Nazis gelang – mit Hilfe des Vatikans – die Flucht nach Südamerika, über die so genannte Ratline (Rattenroute). Die meisten blieben in Deutschland. Die Justiz hätte sie erst gar nicht suchen müssen, denn sie saßen wieder auf ihren alten Posten in Justiz, Behörden, Wirtschaft, Industrie, Medizin, Universität und Schulen – bald sogar in politischen Spitzenpositionen, und sie waren wieder „Wer“, der nette Arzt, der smarte Advokat, der Beamte, der ehrenwerte Richter, der Arbeitgeber, der Lehrer von nebenan. Man hielt zusammen, war sich gegenseitig behilflich, beim Reinwaschen mit dem so genannten Persilschein, der sie wieder zu biederen Saubermännern machte. Das kollektive schlechte Gewissen verdrängte die Schuld: man wollte von allem nichts gewusst haben, verweigerte sich der Aufarbeitung. Obwohl die 68iger-Generation mit wütenden Demonstrationen gegen diese schizophrene Heuchelei anrannte, blieb die Justiz so gut wie untätig, setzte auf die biologische Lösung. Nazijäger wie Simon Wiesenthal und das Ehepaar Klarsfeld erhielten wenig Unterstützung.

In Wahrheit haben alle von den Verbrechen der Nazis gewusst, denn sogar in dem kleinen Eifeldorf, in dem ich während des 2. Weltkrieges aufwuchs, ging der Spruch um: „Von de Judde jet Seef jemaach (Von den Juden wird Seife gemacht)!“ Das ließ mir keine Ruhe mehr, aber die meisten ließ es kalt. Nach dem verlorenen Krieg wurde das Thema Holocaust kollektiv unterschlagen. Ich habe im Geschichtsunterricht niemals je ein Wort zu unserer schändlichen Vergangenheit gehört, musste mir selbst Aufklärung über
Deportation, Ghettos und Konzentrationslager verschaffen, über den Massenmord an jüdischen Kindern, Frauen und Männern, die entehrt, gequält, vergast, eingeäschert wurden, nur weil sie Juden waren! – Unser Ruf, die Fleißigsten, Tüchtigsten und Gründlichsten zu sein, hat sich auch beim industriell organisierten Völkermord bewiesen. – Nestbeschmutzer? Gerne!

Fazit: Der Holocaust ist in seiner Perversität einmalig, in jeder Hinsicht zu abscheulich, zu monströs, als dass er je gesühnt werden könnte. Leider können Gesinnungstäter und Mitläufer juristisch nicht zur Rechenschaft gezogen werden, denn sie waren und sind der große Sumpf, der das kollektive Verbrechen erst möglich macht. – Wiederholungsgefahr? Es würde nicht an „Personal“ mangeln, auch ein „Führer“ wäre schnell gefunden – nicht nur in Deutschland! Zur Rolle der deutschen Justiz und dem Urteil des Landgerichts Detmold über einen überalterten, widerlichen kleinen Nazi im Rollstuhl, fiel mir spontan der Spruch ein: „Und der Berg kreiste, und gebar eine Maus (Horaz, Ars poetica)!“ – Komme mir ja keiner mit der billigen These, das Volk der Dichter und Denker sei von den Nazis verführt worden!

Manfred Schmitz, Flußbach

Aktuelle Ausgabe kostenfrei als E-Paper lesen
Eifelzeitung E-Paper Aktuelle Ausgabe kostenfrei als E-Paper lesen