„WIR von Anfang an“ – Neue Perspektiven für Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit

Erstmals beteiligen sich Eltern an einem Fachkongress

In Deutschland kommen seit einigen Jahren wieder mehr Kinder zur Welt. Gleichzeitig schließen immer mehr Kreißsäle, weil es an Fachärzten und Hebammen fehlt und der Kostendruck steigt. Zudem entstehen durch Arbeitsverdichtung und unklare Zuständigkeiten zunehmend Konflikte zwischen Hebammen, GynäkologInnen und PädiaterInnen. Das führt dazu, dass Eltern ihr Vertrauen in das System verlieren.

Der interdisziplinäre Kongress „WIR von Anfang an“ holt nun alle Beteiligten – auch die Eltern – an einen Tisch, um neue Perspektiven für Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit aufzuzeigen. Am 25. und 26. Oktober 2019 diskutieren sie gemeinsam in Stuttgart, wie das Vertrauen der Eltern gestärkt und die Zusammenarbeit der verschiedenen Fachdisziplinen verbessert werden kann. Darüber hinaus geht es um die Frage, was getan werden muss, um die betroffenen Gesundheitsberufe wieder attraktiver zu machen und wie das anstehende neue Hebammengesetz dazu beitragen kann.

Ein Kind zu bekommen, sollte für Eltern die schönste Erfahrung im Leben sein. Sie sollte geprägt sein von dem positiven Gefühl, während Schwangerschaft, Geburt und der Zeit danach sicher und gut betreut zu werden. „Leider sieht die Realität in Deutschland inzwischen anders aus“, bedauert Dr. med. Gabriela Stammer, Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe aus Wennigsen und Mit-Initiatorin des Kongresses. „Wir erleben in der Praxis immer mehr Verunsicherung bei den Eltern. Sie finden oft keine Hebammen mehr, auch nicht für die Nachsorge.“ Sorgen um das Kind führen sie immer häufiger in überlastete Kreißsäle und Notaufnahmen. Immer mehr Geburtsstationen werden jedoch geschlossen, wodurch die Geburtshilfe nicht mehr wohnortnah gewährleistet ist. „Wir müssen die Elternkompetenz in der Schwangerschaft wieder vermehrt stärken, wieder Raum für ‚freudige Erwartung‘ schaffen sowie Bindung und Gewissheit in dieser spannenden Lebensphase fördern“, fordert die Gynäkologin.

Die derzeitige Entwicklung führt dazu, dass viele Kinder unter Stress ausgetragen und geboren werden und auf einigen Geburtsstationen ein zunehmend angespanntes Arbeitsklima herrscht. „Inzwischen wissen wir darüber hinaus auch, dass wir mit unserer psychischen Haltung die Kindergesundheit bereits im Mutterleib prägen“, erklärt Stammer. Beispielsweise wirke sich Stress im Sinne der Psycho-Neuro-Immunologie negativ auf die Entwicklung des Kindes aus.

Die häufigen Verzögerungen und der Personalmangel in der Geburtshilfe sind nachweislich die größten Risikofaktoren für Geburtsschäden. „Die derzeitigen Bedingungen in der Versorgung rund um die Geburt gefährden die Gesundheit von Mutter und Kind“, betont Katharina Desery, Vorstandsmitglied der Elterninitiative Mother Hood e. V. „Von dem wünschenswerten Modell einer kontinuierlichen Eins-zu-Eins-Betreuung bei der Geburt – je Schwangere eine Hebamme – sind wir derzeit weit entfernt.“ Dabei zeigten wissenschaftliche Studien, dass es dadurch zu deutlich weniger Periduralanästhesien (PDAs), weniger Dammschnitten (Episiotomien), operativen Geburten (Saugglocke, Zange) und Frühgeburten komme.

Um diesen Missständen in der Geburtshilfe entgegenzuwirken, haben sich acht Vereinigungen* zusammengetan. Gemeinsam wollen sie mit dem Kongress „WIR von Anfang an“ einen Brückenschlag zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen und Eltern schaffen. Auch Expertinnen und Experten aus der Gesundheitspolitik und dem Gesundheitswesen sind zum Dialog eingeladen. „Ein Novum ist es, dass zu einem Fachkongress Eltern nicht nur als Zuschauer, sondern als Beteiligte eingeladen sind“, begrüßt Dr. med. Andreas Oberle, Kinderarzt aus Stuttgart. „Denn sie und ihre Kinder sind es ja, um die sich alles dreht. Daher wird es Zeit, ihnen eine gesundheitspolitische Plattform zu geben.“

Das Kongressprogramm ist auf die Praxis zugeschnitten. In insgesamt fünf Foren „Geburt“, „Zu früh geboren“, „Teamwork von Anfang an“, „Schwangerschaft“ und „Elternkompetenz“ werden aktuelle Probleme aufgezeigt und Lösungsansätze erarbeitet. Experten stellen Best-Practice-Beispiele, Studienergebnisse und exemplarische Versorgungsprojekte vor. Im Mittelpunkt aller Foren steht immer – mit Blick auf die Gesundheit von Mutter und Kind – die Frage, wie die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Professionen und den Eltern verbessert und teils verloren gegangenes Vertrauen neu entwickelt werden kann.

„Wir möchten auch einen Blick über den Tellerrand werfen und dabei funktionale Modelle anderer Länder betrachten. So können wir Lösungen für unsere strukturellen Probleme in Deutschland finden“, erklärt Jutta Eichenauer, 1. Vorsitzende des Hebammenverbands Baden-Württemberg e.V. Beispielsweise bilde das DRG-System nicht die tatsächliche Arbeit und Situation in der Geburtshilfe ab. „Es ist Zeit, eine bedarfsorientierte Vergütung für geburtshilfliche Leistungen zu finden“, fordert Eichenauer. „Außerdem muss es einen verbindlichen Personalschlüssel für die Geburtsbetreuung geben und der Hebammenberuf muss aufgewertet werden – beispielsweise durch eine Hochschulausbildung.“

Derzeit werde an dem neuen Hebammengesetz gearbeitet, das noch in diesem Jahr verabschiedet werden und ab dem 31.12.2020 greifen soll. „Kernstück dieses Gesetzes soll eine längst überfällige Akademisierung des Hebammenberufes sein“, so Eichenauer. „Deutschland ist derzeit noch das einzige EU-Land, das keine Hebammenausbildung an Hochschulen anbietet.“ Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hat nun am 21. März einen Referentenentwurf vorgelegt, der Anfang April im Bundestag vorgestellt wird. Damit kommt Deutschland einer EU-Richtlinie nach, die bis zum 18. Januar 2020 eine Überführung der Hebammenausbildung an die Hochschulen fordert.

Der Festvortrag „Von Anfang an zu zweit – Zur Bedeutung von Schwangerschaft und Geburt für das Selbstverständnis des Menschen“ von Medizinethiker Professor Dr. med. Giovanni Maio, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, rundet das Kongressprogramm ab. Interessierte können sich auf der Kongress-Homepage https://wir-von-anfang-an.de/  für den Kongress anmelden.

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