93 Millionen Einwohner in 2050

Professor Dr. Dr. h.c. mult.  Hermann Simon, Gründer und Chairman von Simon-Kucher & Partners Strategy  & Marketing Consultants, Bonn und  Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung  Stadt Wittlich, ist mit dabei beim  VII. Unternehmerforum Wittlich  am 26. September 2014 in der Kultur- und Tagungsstätte Synagoge Foto: © Schafgans DGPh / Simon-Kucher & Partners
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Simon ist Gründer und Chairman der weltweit tätigen Unternehmensberatung Simon – Kucher & Partners

von Hermann Simon

Die täglichen Nachrichten quellen über von den unaufhaltsam anschwellenden Flüchtlingsströmen. Statt der noch im Frühjahr erwarteten 450.000 Asylbewerber sollen es in diesem Jahr jetzt 800.000 werden. Die akuten Probleme sind kaum zu bewältigen und stehen verständlicherweise im Zentrum der Sorgen von Politik, Verwaltung und Gesellschaft. Wenig hört und liest man hingegen zu den langfristigen Konsequenzen, die sich aus diesen Entwicklungen ergeben. Diese Konsequenzen sind gravierend und stellen unsere Gesellschaft vor enorme Herausforderungen. Das gilt in organisatorischer und viel stärker noch in kultureller Hinsicht.

Doch zunächst zu einigen Zahlen. Im Jahre 2015 hat die Bundesrepublik eine Bevölkerung von etwas mehr als 81 Millionen. Die Zahl der tatsächlich in Deutschland lebenden Menschen dürfte allerdings um 1-2 Millionen höher liegen. Laut der im Juli veröffentlichten Prognose des Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung soll die deutsche Bevölkerung bis 2030 auf 79,3 Millionen schrumpfen. In 15 Jahren würden gemäß dieser Vorhersage also 3 Millionen weniger Menschen in Deutschland leben. Einen weiteren Zeithorizont hat die Prognose der UNO, die im Jahre 2050 in Deutschland nur noch 73 Millionen Einwohner sieht, knapp 10 Millionen weniger als heute. Das Statistische Bundesamt sieht diese Zahl im Jahre 2060. Glaubt man diesen Zahlen, so ist Deutschland ein schrumpfendes Land. Hinzukommt kommt die Verschiebung der Alterspyramide mit den bekannten negativen Folgen auf den Konsum gemäß dem Motto „alte Leute kaufen nichts“. Der Grundsatz „Demographie ist Ökonomie“ wird, wenn diese Prognosen eintreten, Deutschland schwer zu schaffen machen.

Ich glaube allerdings nicht an diese Zahlen. Meine persönliche Erwartung für die deutsche Bevölkerung in 2050 lautet 93 Millionen. Dabei will ich mit dieser Zahl keine präzise Vorhersage, sondern eine Größenordnung zum Ausdruck bringen. Es können auch 100 Millionen werden. Für 2030, also in 15 Jahren, erscheinen mir 85 Millionen als nicht unrealistisch. Seriöse Prognosen zu diesen Entwicklungen sind unmöglich. Wenn heute die Zahl der erwarteten Asylanten doppelt so hoch geschätzt wird wie noch vor vier Monaten, dann zeigt dies, dass sich solche dramatischen Entwicklungen jeder Plan- und Prognostizierbarkeit entziehen. Wie komme ich zu diesen Zahlen? Wo sollen diese Millionen von Menschen herkommen?

Im Jahre 2014 hatten wir mehr als eine Million Zuwanderer und lagen damit nur knapp hinter den USA weltweit an zweiter Stelle. Derzeit kommen die meisten Zuwanderer aus Zentral- und Osteuropa, dem Westbalkan und aus Krisenländern wie Syrien. Im Westbalkan sagen 40 Prozent der Menschen, dass sie auswandern werden. Bevorzugtes Ziel ist Deutschland. Die Zahl der Afrikaner, die sich auf den gefährlichen Weg nach Europa machen, schwillt täglich an. Heute hat Afrika eine Milliarde Einwohner. Von diesen wollen laut Umfragen 40 Prozent nach Europa. Die afrikanische Bevölkerung wird sich laut UNO-Prognose bis 2050 verdoppeln. In den nächsten 35 Jahren werden dort also deutlich mehr als 1 Milliarde Menschen geboren. Wie viele von diesen wollen nach Europa und insbesondere Deutschland?

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Simon
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Simon

Von einem Punkt bin ich fest überzeugt und dieser Punkt bildet die entscheidende Grundlage für die folgenden Überlegungen: die Zuwandererströme lassen sich nicht aufhalten, allenfalls etwas abmildern. Wir müssen damit leben, dass in den nächsten Jahrzehnten Millionen von Menschen nach Deutschland kommen werden. Kein Zaun, keine Mauer, keine Militäraktion, keine Reduktion von Taschengeld wird das verhindern können. Natürlich sollten wir alles tun, die Lebensbedingungen in Afrika zu verbessern und Frieden in Krisengebieten zu schaffen. Aber das wird nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Die „Völkerwanderung“ wird stattfinden. Das Statistische Bundesamt geht in seiner Langfristprognose von einer jährlichen Nettozuwanderung von 200.000 aus. Ich halte 800.000 für eine wesentlich realistischere Größenordnung. Das wären 600.000 mehr. Bis 2050, also in 35 Jahren, kommen so gut 20 Millionen mehr zusammen als in den heutigen Prognosen. Das ergibt meine Hausnummer von 93 Millionen. Ist das realistisch oder Phantasterei? Das kann heute niemand sagen. Jedenfalls halte ich ein Bevölkerungswachstum für wesentlich realistischer als einen Rückgang.

Was sind die Konsequenzen,
wenn diese Entwicklung eintritt?
Deutschland wird in den nächsten Jahrzehnten ein wachsendes Land sein. Unser Demographieproblem ist gelöst. Wir brauchen riesige Investitionen, um die zunehmende Bevölkerung mit Wohnungen und Arbeitsplätzen zu versorgen. Wie sich Einkommen und Wohlstand entwickeln, hängt dabei vom nächsten Punkt ab.

Wenn wir den Strom der Zuwanderer nicht aufhalten können, dann müssen wir alles tun, sie erstens zu integrieren und zweitens so auszubilden, dass sie einen produktiven Beitrag leisten können. Das erfordert erstens eine radikale Änderung der gesellschaftlichen Einstellungen. Wir sind ein Einwanderungsland! Wir müssen die Chancen, die uns die meist jungen Zuwanderer bieten, durch Offenheit und Integrationsinitiativen nutzen. Vorbild können hier die USA sein, die beispielsweise Zuwanderer aus Asien sehr produktiv einbinden. Hingegen muss das französische Modell der Ghettoisierung unbedingt vermieden werden. Zum zweiten müssen wir Milliarden in eine schnelle und effektive Bildung dieser neuen Bevölkerungsgruppen investieren. Wir können unsere Produktivität und unseren Wohlstand nur mit bestens ausgebildeten Menschen halten.

Die höchste zeitliche Priorität sollte dabei die Sprachausbildung erhalten. Neuankömmlinge, die hier bleiben wollen, müssen schnellstmöglich die deutsche Sprache erlernen. Das geht nicht ohne Druck, so dass es Arbeit für das Bundesverfassungsgericht geben wird. Denn Freiheit und der Druck zur Integration lassen sich nicht leicht unter einen Hut bringen.

Wir müssen uns damit abfinden und anfreunden, dass die deutsche Gesellschaft des Jahres 2050 eine völlig andere sein wird als die heutige. Faktisch ist die heutige Gesellschaft schon sehr viel anders als diejenige von 1990. Wir verdrängen das allerdings. Man gehe mal an einem Sommerabend durch die Innenstadt von Bad Godesberg. Oder besuchen Sie die Randbezirke italienischer Großstädte. Dann ist Schluss mit der Verdrängung. In 2050 dürfte der Anteil afrikastämmiger Deutscher, als Afro-Deutscher, etwa so hoch sein wie derjenige der Afro-Amerikaner in den USA. Die Deutschstämmigen, die Katholiken, die Protestanten verlieren ihren Mehrheitsstatus.

Die neuen Bundesländer und auch das Ruhrgebiet werden eine Neubesiedlung erleben. Ein Schweizer Investor kauft in ostdeutschen Städten ganze Straßenzüge zu sehr niedrigen Preisen. Seine Begründung: „Deutschland ist im Hinblick auf Klima und Infrastruktur so attraktiv, dass es nicht unbesiedelt bleiben wird.“ Er hat gute Chancen, langfristig recht zu behalten.

Wie sich die Entwicklung auf den Arbeitsmarkt auswirkt, lässt sich schwer vorhersagen. Wachsende Bevölkerung bedeutet mehr Arbeitsplätze. Niedrig Qualifizierte werden durch die Zuwanderer unter Druck geraten. Wenn die Bildungsinitiativen Früchte tragen, wird der Talentmangel abgemildert.

Große Herausforderungen kommen auf die Parteien zu. Obama ist Präsident geworden, weil es ihm gelang, die Stimmen der spanischsprachigen Einwanderer (Hispanics) zu gewinnen. Die Partei, die bei den Zuwanderern am besten abschneidet, wird in 30 Jahren die Regierung stellen.

Die Zuwanderung eröffnet große Chancen für die weitere Internationalisierung der deutschen Wirtschaft. Es gab in den letzten Jahrzehnten zum Beispiel keinen Mangel an Polnisch oder Russisch sprechenden Nachwuchskräften. Das hat uns in diesen Märkten sehr geholfen. In ähnlicher Weise eignen sich Afro-Deutsche bestens zur Entwicklung unserer Märkte in Afrika.

In den nächsten Jahrzehnten dürfte die deutsche Gesellschaft sich stärker verändern als je zuvor in ihrer Geschichte. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg war der Wandel weniger radikal, denn die Menschen waren die gleichen. Die Flüchtlinge und Vertriebenen aus Osten waren überwiegend Deutsche. Diesmal werden die Zuwanderer Menschen aus anderen Kulturen, anderen Religionen und anderer Hautfarbe sein. Wir sollten alles tun, sie zu Deutschen zu machen.

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