Zentimeter-Striche

Wenn die Enkel mich besuchen, werden sie immer gemessen. So zwischendurch beim Spielen höre ich dann plötzlich: „Oma, wir haben ja noch nicht gemessen.“ „Na, dann aber schnell an den Türrahmen und bitte ohne Schuhe, Hände an die Hosennaht, wie ein Soldat.“ Im Null Komma Nichts steht Leon da. „Oma, kann ich wieder meinen Namen dazu schreiben?“ „Na klar, aber erst mal ein Buch auf den Kopf und einen Strich machen. Hui, da sind ja wieder ein, zwei Zentimeter hinzugekommen“, freue ich mich. Leon guckt hin: „Bin ich jetzt schon größer als Laurin?“ „Na, mal sehen. Ich glaube, jetzt seid ihr beide gleich groß“, schätze ich zuversichtlich. „Nur noch eine Zuckerstulle heute Abend, dann hast du es bestimmt geschafft!“ Sie können mir glauben, der Türrahmen ist bestens geeignet, um das Wachstum festzuhalten. Meine Töchter wurden an derselben Stelle gemessen. Ohne Metermaß wurden einfach nur Striche am Türrahmen gemacht. Die durften niemals abgewaschen werden. Diese Striche waren ein „Dokument erster Ordnung“. Ich denke an meinen Vater und mich: Es war Tradition, dass alle halbe Jahre mein Wachstum festgestellt wurde. Es war für mich damals immer wieder ein kleines Stück neues Leben. Vati sagte dann oft: „Klein, aber oho.“ Das denke ich auch heute noch mit meinen 1,58 Metern. Und ich glaube, jeder Mensch braucht solche „Klein, aber oho!“-Mutmacher und wenn es nur Zentimeterstriche auf einem Türrahmen sind.

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